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Zwischenwelten (German Edition)

Zwischenwelten (German Edition)

Titel: Zwischenwelten (German Edition)
Autoren: Mariëtte Aerts
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Ärgerlich wischt Tio mit der Handkante die schwarzen Buchstaben vom Spiegel. »Flip!«, ruft er seinen Vater. Nicht weil sein Vater so heißt – in seiner Geburtsurkunde steht Philip, und auf der Seitenwand des großen schwarzen Wagens, mit dem er durch die Lande zieht und in dem sich all der Kram befindet, den er im Lauf seines Lebens gesammelt hat, heißt er in knallroten Buchstaben FILIPPO! Tios Vater fand, dass dieser Name gut klang für einen weltberühmten Zauberkünstler. Leider sind seine Zaubernummern nicht weltberühmt, und nach Tios Meinung könnte man das Wort Zauber auch ruhig weglassen. Seiner Meinung nach sind es Stümpernummern. Tio findet, dass sein Vater eher so ein bisschen herummurkst, und wichtig ist dabei vor allem die Lichtshow, mit der er seine Fehler überspielt. Tio kriegt stumpfe Zähne vor Scham beim Zuschauen. Immer in den Ferien erlebt er die Stümperei hautnah mit. Wenn es nach Tio ginge, könnte die Schule ganz schnell wieder beginnen, denn in den Monaten, in denen er zur Schule muss, lebt er bei seiner Mutter. Sie wohnt nicht in einem Haus auf Rädern, sondern in einem ganz gewöhnlichen Reihenhaus, das nirgendwo hinfährt und Jahr für Jahr brav dort bleibt, wo es ist. Das findet Tio schön normal. Wenn es nach ihm ginge, bräuchte es das ganze Trara nicht zu geben, die Fahrten über holprige Straßen von einem Standplatz zum anderen, das Auslegen und Aufschlagen des Zelts, das Anbringen der Lampen, das Aufbauen der Bühne und der Sitzreihen. Und jeden Tag dasselbe Spektakel: die knackende Musik vom Pferdchenkarussell, die Rufe von den Ständen, wo es etwas zu gewinnen gibt. Und nicht zu vergessen die betäubenden Gerüche: der süße Duft von rosa Zuckerwatte, von Popcorn, von Waffeln.
    »Flip!«, ruft er noch mal. Nicht mehr und nicht weniger. Filippo findet er irgendwie übertrieben, und wenn seine Mutter Philip sagt, dann klingt immer ein missbilligender Ton mit. Sein Vater hört ihn offenbar nicht, denn es kommt keine Antwort. »Was sollen diese Worte wohl bedeuten?«, fragt Tio sich selbst. Es ist nun schon das dritte Mal, dass er die hingekritzelte Schrift auf dem Spiegel entdeckt. Sie scheinen mit schwarzem Eyeliner geschrieben worden zu sein, einem wie ihn sein Vater benutzt, um sich einen geheimnisvollen dunklen Blick zu geben, bevor er die Bühne betritt. »Welcher Blödmann schreibt denn auf einen Spiegel?« Es wirkt, als hätte sich jemand nicht sehr erfolgreich an einem Gedicht versucht.
    Ihr
    Wir
    Vorbei
    Dasselbe hat auch gestern da gestanden.
    »Pa!« Das ist Tios letzter Versuch. Pa sagt er nur, wenn er deutlich machen will, dass er etwas Dringendes loswerden muss.
    »Ja, kommst du mal kurz helfen?«, hört er endlich eine Antwort aus dem Zelt.
    »Warum verschmierst du den Spiegel?«, will Tio wissen.
    »Ich verschmier den Spiegel?«, fragt sein Vater. Er klingt nicht besonders interessiert. Eher so, als ob er seinem Sohn ohne zu überlegen antwortet, in Gedanken aber ganz woanders ist. Und das scheint tatsächlich der Fall zu sein. »Hör mal, ich finde immer noch, dass die Strahler anders besser stehen. Los, hilf mir mal.«
    Mit einem Seufzer steigt Tio auf die kleine schwarz gestrichene Holzbühne und wirft einen gelangweilten Blick in den düsteren Raum, wo bereits die Bankreihen aufgestellt sind. Bald werden dort Menschen Platz nehmen, um die missratenen Nummern eines erbärmlichen Zauberers zu sehen. Gut, kleine Kinder finden es meistens toll, aber ein paar finden es auch unheimlich, fangen an zu plärren und müssen dann schnell von ihren Müttern an die frische Luft befördert werden.
    Überrascht stellt Tio fest, dass schon jemand da sitzt und wartet. Es ist ein Mädchen, und es sitzt in der ersten Reihe. Tio nickt ihr aufmunternd zu. Viel Spaß, wünscht er ihr in Gedanken. Wetten, dass du es hier keine zehn Minuten aushältst, wenn es erst mal angefangen hat? Das sagt er natürlich nicht laut, denn sein Vater steht neben ihm und würde über eine so erbarmungslose Bemerkung völlig aus der Fassung geraten.
    Das Mädchen nickt zurück.
    Nach der dritten Vorstellung (am Sonntagnachmittag gibt es immer drei) sieht Tio zu seiner großen Verwunderung, dass das Mädchen immer noch da sitzt. Hat sie etwa wirklich bei drei Vorstellungen hintereinander zugesehen? Kann das sein? Jemanden, der das schafft, will Tio unbedingt kennenlernen.
    »Du musst dich ja schrecklich langweilen«, sagt er einfach so, als er sich neben sie auf die Holzbank setzt.
    »Hm?«,
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