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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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Droschken. Wenn sich nach der Frühmesse dann die Kirchen leerten, begegneten die Pfarrer und Betschwestern schon den Professoren und Studenten der Sorbonne, die mit wehenden Talaren und Büchern unter dem Arm zur Vorlesung hasteten, während die Kellner der Limonadenbuden auf ihren Tabletts heiße und kalte Getränke durch das Gewühl balancierten. Brachen gegen neun Uhr die Barbiere und Perückenmacher, gepudert vom Scheitel bis zur Sohle, die Kräuselschere in den Händen, zu ihren Hausbesuchen auf, quollen die Gassen und Plätze bereits von den Massen über, und die Stadt drohte an ihrer eigenen Geschäftigkeit zu ersticken, wenn eine Stunde später die Staatsdiener, Richter und Notare in schwarzen Schwärmen zum Châtelet und Justizpalast eilten, bevor schließlich die Bankiers, Makler und Spekulanten zur Börse strömten und die Müßiggänger zum Palais Royal.
    Stand dann die Sonne im Zenit, schwebte über der ganzen Stadt zusammen mit dem ewigen Rauch, der in gelblichen Wolken aus den Schornsteinen quoll, um die Spitzen der Kirchtürme den Blicken zu entziehen, ein gewaltiges babylonisches Stimmengewirr, eine gleichförmige Kakophonie aus Worten und Widerworten, Flüchen und Schreien, Rufen und Lachen, mit denen sich die sechs mal hunderttausend Menschen ihren Platz in der Metropole erstritten oder einfach nur ihrer Seele Luft verschafften. Sie alle wollten leben, lieben und glücklich sein! Erst wenn sie am Abend die Arbeit niederlegten, senkte sich mit der Dämmerung das Geschrei und Gesumm wieder auf die Häuser herab und verlagerte sich von den Straßen und Plätzen in die Kneipen, Cabarets und Restaurants, vor allem aber in die Kaffeehäuser. In diesenLokalen, die es erst seit wenigen Jahrzehnten in der Stadt gab, die jedoch immer mehr in Mode kamen, wurden Nachrichten und Meinungen gehandelt wie Waren und Wertpapiere an der Börse.
    Das erste Pariser Etablissement dieser Art, wo weder Bier noch Wein oder andere benebelnde Getränke ausgeschenkt wurden, sondern ausschließlich solche, welche die Sinne schärften und die Gedanken stimulierten, befand sich in der Rue des Fossés Saint-Germain Numero 13, direkt gegenüber der alten Komödie. Ein Italiener aus Palermo, Francesco Procopio, hatte es 1686 eröffnet, nachdem er mit dem Straßenverkauf von Kaffee gescheitert war. Schwere Stühle mit rotem Lederbezug und dicke Balken über niedrigen, pastellgelben Wänden prägten das Bild des Lokals, in dem an wuchtigen Eichentischen die Gäste Zeitung lasen, Schach spielten oder sich die Köpfe heiß redeten. Hier hatte jeder Zutritt, der seine Zeche bezahlen konnte. Niemand galt mehr als der andere, keiner musste sich vor einem Höherstehenden erheben, vielmehr nahm jeder neue Gast den nächstbesten Platz ein, warf sich, den Dreispitz auf dem Kopf und die Pfeife im Mund, auf einen Stuhl, streckte die Beine aus und griff nach einem Journal oder mischte sich in das Gespräch seiner Tischnachbarn ein. Und während draußen in den Gassen die Laternen angezündet wurden – Hoheitszeichen des Königs, in dessen Glanz die Stadt auch bei Nacht erstrahlen sollte, und zugleich Wahrzeichen einer aufgeklärten Vernunft, die in derselben Stadt ihr Wesen trieb, um die Autorität der Herrschaft bohrend in Frage zu stellen –, destillierten all die Stimmungen und Launen, die bei Tage diffus in der Luft gelegen hatten, hier drinnen zu klaren Gedanken, wurden widerstreitende Hoffnungen, schwelende Ängste undaufkeimende Ansprüche auf den Begriff gebracht und gelangten zur Sprache.
    In diesem Lokal, dem Café »Procope«, das bei der Polizei von Paris als Treffpunkt gefährlicher Freidenker und Aufrührer galt, hatte Sophie Volland, inzwischen achtzehn Jahre alt, eine Anstellung als Serviererin gefunden.

2
     
    »Wie immer eine Tasse Schokolade, Monsieur Diderot?«
    »Ja, mit viel Vanille und Zimt.«
    »Ist das alles, oder haben Sie noch einen Wunsch?«
    »Wenn du mich so freundlich fragst – ja, Mirzoza.«
    »Monsieur Diderot, ich habe Ihnen schon ein Dutzend Mal gesagt, ich heiße Sophie!«
    »Mag sein, Mirzoza. Aber ich weiß es besser. Du bist doch eine Märchenprinzessin!«
    »Und warum arbeite ich dann hier?«
    »Weil man dich auf einen falschen Namen getauft hat, Mirzoza.«
    Sophie wusste nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte. Dieser Diderot, ein Mann Anfang dreißig, der fast täglich ins »Procope« kam, gehörte zu den so genannten Philosophen, den Stammgästen des Lokals, die hier ihr zweites Zuhause
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