Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
1
     
    »Credo in unum Deum. Patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae …«
    Sophie schloss die Augen, während sie mit bloßen Füßen auf dem gestampften Lehmboden ihrer Schlafkammer kniete, um mit der ganzen Inbrunst ihres elfjährigen Herzens zu beten. Dabei ließ gerade dieses Herz ihr keine Ruhe – es pochte so heftig, als wollte es ihr zur Brust herausspringen. Das lateinische Glaubensbekenntnis gehörte zu den Aufgaben, die der Pfarrer die Kommunionkinder des Dorfes heute abfragen würde, bevor sie zum ersten Mal in ihrem Leben an den Tisch des Herrn treten durften. Obwohl Sophie das
Credo
an diesem Morgen schon ein Dutzend Mal gebetet hatte, sagte sie es deshalb noch einmal auf. Das Sakrament der heiligen Kommunion war nach den Sakramenten der Taufe und der Beichte das dritte Tor auf dem langen, langen Weg zum Himmelreich, und das Glaubensbekenntnis der katholischen Kirche war der Schlüssel, um dieses Tor in ihrem Herzen aufzuschließen.
    »… visibilium omnium et invisibilium. Et in unum Dominum Jesum Christum …«
    Sophie verstand zwar kein einziges Wort des Gebets, doch war sie sich seines Sinnes so gewiss wie der Tatsache, dass der Herrgott im Himmel sie liebte. Während sie durch den Irrgarten der lateinischen Verse schnurrte, fühlte sie sich, wie wenn sie durch das Buchsbaumlabyrinth lief, das Baron de Laterre im Schlosspark angelegt hatte. Man schien ganz und gar darin verloren, ohne Hoffnung, je ans Ende zu gelangen, doch wenn man einfach drauflos sauste, schaffte manes irgendwie doch. Jeder Vers war eine neue Gasse, jedes Versende eine Biegung des Labyrinths, und plötzlich stand man frei auf einer sonnenüberfluteten Lichtung. Als würde man durch das Himmelstor ins Paradies eintreten.
    »… Et expectio resurrectionem mortuorum. Et vitam venturi saeculi. Amen.«
    »Meinst du nicht, du hast genug geübt? Höchste Zeit, dich anzuziehen!«
    Sophie schlug die Augen auf. Vor ihr stand ihre Mutter Madeleine. Über dem Arm trug sie eine weiße, bauschige Wolke – Sophies Kommunionkleid.
    »Ich hab solche Angst«, sagte Sophie, während sie ihr grobleinenes Nachthemd auszog. »Mir ist richtig schlecht.«
    »Das kommt nur, weil du nichts im Magen hast«, erwiderte Madeleine und streifte ihr das Kleid über den nackten Leib. Sie hatte es aus einem Gardinenrest genäht, den ihr der Baron für Sophie geschenkt hatte. »Du hast seit der Beichte gestern nichts mehr gegessen.«
    »Was ist, wenn ich irgendeine Sünde vergessen habe?« Sophie zögerte, bevor sie weitersprach. »Darf ich dann den Heiland überhaupt in meine Seele lassen? Die muss doch ganz und gar sauber sein.«
    »Was für Sünden hast du denn begangen?« Ihre Mutter lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, deine Seele ist so blitzblank wie der Himmel draußen.«
    Sophie spürte, wie der Gardinenstoff an ihren Brustspitzen kratzte, die seit ein paar Wochen merkwürdig spannten. »Die Leute sagen«, erwiderte sie leise, »ich bin in sündiger Liebe gezeugt. Hätte ich das nicht auch beichten müssen?«
    »Wer hat das behauptet?«, fragte Madeleine, und an der heftigenArt, wie sie die Knöpfe zumachte, spürte Sophie, dass ihre Mutter ganz und gar anderer Meinung war.
    »Der Pfarrer, Abbé Morel.«
    »So, sagt er das? Obwohl du ihm die ganze Arbeit abnimmst? Ohne dich könnte er die anderen Kinder gar nicht unterrichten.«
    »Und er sagt auch, dass Papa in der Hölle ist. Weil er nicht mit dir verheiratet war. Wenn Männer und Frauen Kinder bekommen, ohne verheiratet zu sein, dann, sagt Monsieur l’Abbé, ist das wie bei den Katzen.«
    »Unsinn«, entschied Madeleine und schloss den letzten Knopf an Sophies Kleid. »Das Einzige, worauf es ankommt, ist, dass die Eltern sich lieb haben, so wie dein Papa und ich. Die Liebe ist das Einzige, was zählt.«
    »Außer dem Lesen!«, protestierte Sophie.
    »Außer dem Lesen!« Madeleine lachte. »Und alles andere ist dummes Gerede – hör nicht darauf!« Sie küsste Sophie auf die Stirn und sah sie zärtlich an. »Wie hübsch du bist. Da, schau selbst!«
    Sie gab ihr einen Klaps, und Sophie trat vor die Spiegelscherbe, die neben dem kleinen Marienaltar an der weiß gekalkten Wand hing. Als sie sich sah, bekam sie einen freudigen Schreck. Aus der Scherbe blickte ihr ein Mädchen mit roten Haaren entgegen, die in großen Locken auf ein so wunderschönes Kleid herabfielen, wie es sonst nur die Prinzessinnen und Feen auf den Bildern in Märchenbüchern trugen.
    »Wenn dein Papa im Himmel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher