Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
dich jetzt sieht«, sagte ihre Mutter, »kann er dich von den Engeln dort oben gar nicht unterscheiden.«
    Ob er sie wirklich sah? Sophie wünschte es sich so sehr, dasssie sich auf die Lippen biss. Obwohl ihr Vater vor drei Jahren in der Fremde gestorben war, an einem hitzigen Fieber, das im Süden des Landes grassierte, erinnerte sie sich so genau an ihn, dass sie nur die Augen zu schließen brauchte, um ihn vor sich zu sehen: ein großer bärtiger Mann mit einem Schlapphut auf dem Kopf und einer Kiepe auf dem Rücken, der mit seiner hellen Stimme alle Tierlaute nachmachen konnte, vom Pferdewiehern bis zum Gezwitscher unbekannter Vögel, die es nur in Afrika gab. Dorval war sein Name, und die Leute nannten ihn einen Hausierer, doch für Sophie war er ein Bote aus einer anderen Welt gewesen, einer Welt voller Geheimnisse und Wunder.
    Jedes Jahr war er zur Kirchweih in ihr Dorf gekommen, über und über beladen mit Messern und Scheren, Töpfen und Tiegeln, Kurzwaren und Bürsten – vor allem aber mit Büchern. Drei Wochen, von Christi Himmelfahrt bis Fronleichnam, lebten sie dann in ihrem kleinen strohgedeckten Haus am Dorfrand wie eine richtige Familie zusammen, bis Dorval mit seinen Schätzen weiterzog, und diese drei Wochen waren für Sophie stets die schönste Zeit im Jahr gewesen. Jede Minute verbrachte sie in seiner Nähe, lauschte seinen Geschichten von fernen Orten und gefahrvollen Abenteuern, von der schönen Melusine oder Oger dem Riesen, blätterte mit ihm in den dicken, prachtvoll ausgemalten Büchern, von denen aus seiner Kiepe immer wieder neue zum Vorschein kamen, Fibeln, Herbarien, Traktate, die scheinbar auf alle Fragen des Lebens eine Antwort wussten: wie man Warzen oder den Schluckauf kurierte, die Schrecken des Jüngsten Gerichts bannte oder die bösen Mächte des Traums überwand. Von Dorval hatte Sophie die roten Haare und die Sommersprossen geerbt, die ihre Stupsnase und Wangen zuTausenden übersäten, sodass ihre grünen Augen noch heller zu leuchten schienen als die ihrer Mutter. Vor allem aber hatte sie von Dorval etwas bekommen, was sie allen anderen Kindern im Dorf voraus hatte, eine Fähigkeit, die, wie ihre Mutter sagte, wertvoller war als sämtliche Schätze der Welt: die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben.
    Plötzlich fiel Sophie etwas ein, und im selben Augenblick war ihre Festtagsstimmung dahin.
    »Der Mann gestern Abend«, sagte sie leise.
    »Was für ein Mann?«, fragte ihre Mutter erschrocken.
    »Der Mann mit dem Federhut. Ich habe gehört, was er zu dir gesagt hat.«
    »Du hast uns belauscht?« Madeleine zog ein Gesicht wie manchmal Sophie, wenn sie bei etwas Verbotenem ertappt wurde.
    »Ich konnte nicht schlafen.« Sophie stockte. »Wird er – mein neuer Papa?«
    »Aber nein, mein Herz, bestimmt nicht!« Madeleine kniete sich vor sie hin und schaute ihr fest in die Augen. »Wie kannst du nur so etwas Dummes glauben?«
    »Aber was hat der Mann von dir gewollt? Er hat versucht, dich zu küssen!«
    »Mach dir keine Sorgen! Männer sind manchmal so.«
    »Und er wird wirklich nicht mein Vater?«, fragte Sophie, wobei sie vor Aufregung am ganzen Leib zitterte.
    »Versprochen! Ich hab ihn zum Teufel geschickt. – Aber was ist mit dir? Du bist ja völlig durcheinander! Ich glaube, es ist besser, wenn ich dir etwas gebe, sonst wird dir in der Kirche noch schlecht.« Madeleine nahm eines der vielen Fläschchen vom Regal, die neben dem dicken Kräuterbuch standen, und tröpfelte daraus einen schwarzen Trank auf einen Holzlöffel.
    »Da, nimm das!«, sagte sie und reichte ihr den Löffel. »Damit du dich wieder beruhigst.«
    Sophie zögerte. »Ist das keine Sünde? Vor der Kommunion?«
    »Nein, mein Herz, das ist keine Sünde«, sagte Madeleine, während sie ihr vorsichtig den Trank einflößte, damit nichts auf ihr weißes Kleid tropfte. »Das ist Medizin, und die ist vor der Kommunion erlaubt. Du willst doch die Prüfung bestehen, oder?«

2
     
    Die Glocken läuteten schon von Ferne, als Madeleine und Sophie Hand in Hand den Feldweg nach Beaulieu entlangliefen, ein Dorf von dreihundert Seelen. Ein blauer Himmel spannte sich über die Weinberge und Wiesen, die sich unter einem grünen Schleier auszubreiten schienen, und die warme Erde unter Sophies Holzpantinen verströmte wieder jene süßen, wohlvertrauten Düfte, die schon jetzt den Sommer ahnen ließen. Glitzernd im Sonnenschein wälzten sich die Fluten der Loire durchs Tal, Ginster und Flieder säumten die Ufer des Flusses, und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher