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Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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Kapitel 1

    Manchmal gibt es keine Vorwarnung. Überhaupt keine.
    Dein Hautboot fliegt wie ein Kormoran über die Wellen, dein Paddel jagt silberne Fische durch den Tang, und alles ist genau so, wie es sein soll: die kabbelige See, die Sonne in deinen Augen, der kalte Wind in deinem Nacken. Bis mit einem Mal ein Felsen im Wasser auftaucht, größer als ein Wal, und du hältst direkt darauf zu, dein Boot muss unweigerlich daran zerschmettern …
    Torak warf sich im letzten Augenblick zur Seite und stach sein Paddel tief ins Wasser. Das Hautboot machte einen gewaltigen Satz, wäre beinahe gekentert – und zischte um einen Fingerbreit an dem Felsbrocken vorbei.
    Bis auf die Haut durchnässt und Salzwasser spuckend, fand er nur mit Mühe sein Gleichgewicht wieder.
    »Alles in Ordnung?«, rief Bale und drehte bei.
    »Ich hab den Felsen nicht gesehen«, stammelte Torak und kam sich dumm vor.
    Bale grinste. »Im Lager sind noch ein paar Anfänger. Wie wär’s, willst du ihnen Gesellschaft leisten?«
    »Da überlasse ich dir den Vortritt«, gab Torak zurück und sorgte mit einem kräftigen Schlag seines Paddels dafür, dass Bale tropfnass wurde. »Wer zuerst an der Klippe ist.«
    Der Robbenjunge johlte auf und schon flogen sie nebeneinander her: kalt, nass und übermütig. Hoch über sich entdeckte Torak zwei dunkle Flecken. Er pfiff, und Rip und Rek stießen zu ihm herab und flogen so dicht neben dem Boot her, dass ihre Flügelspitzen beinahe die Wellen berührten. Als Torak einer Eisscholle auswich und die Raben der Bewegung folgten, glitzerte das Sonnenlicht rötlich und grünlich auf ihren pechschwarzen Federn. Dann flogen sie ihm voraus, und Torak musste sich anstrengen, um mitzuhalten. Seine Muskeln brannten vor Anstrengung, Salz stach auf seinen Wangen. Er lachte laut auf. Das war beinahe so schön wie fliegen.
    Bale – zwei Sommer älter und der beste Paddler der Insel – zog an ihm vorbei und verschwand im Felsschatten der hoch aufragenden Landzunge, an der das Wettrennen endete. Hier draußen vor der Bucht war die See rauer, und als eine kräftige Welle seitlich gegen Toraks Boot schwappte, wäre es um ein Haar gekentert.
    Als er das Boot wieder unter Kontrolle hatte, zeigte der Bug in die falsche Richtung. Beim Anblick der sonnigen Robbenbucht vergaß Torak das Wettrennen für einen Augenblick vollkommen. Vom Wasserfall am Südende der Insel stieg zarter Nebel auf, Möwenscharen kreisten über den Klippen. Am Strand kräuselten sich Rauchwolken über den dicht zusammengedrängten Hütten des Robbenclans. Die langen Holzgestelle, an denen die salzigen Dorsche zum Trocknen hingen, glitzerten wie Raureif. Fin-Kedinns dunkelroter Schopf leuchtete wie ein Signalfeuer zwischen den blonden Robbenleuten auf; und ein Stück weiter war Renn gerade dabei, eine andächtig lauschende Schar von Robbenkindern in die Kunst des Bogenschießens einzuweihen. Torak musste grinsen. Keine leichte Aufgabe für die ungeduldige Renn, denn mit ihren Harpunen stellten sich die Robben wesentlich geschickter an als mit Pfeil und Bogen.
    Als Bales lauter Ruf an Toraks Ohr drang, wendete er das Boot und paddelte weiter.
    Erst als die Klippe hinter ihnen lag, stellten die beiden fest, dass sie schon halb verhungert waren, und steuerten eine kleine Bucht an, wo sie ein Feuer aus Treibholz und Seegras weckten. Bevor sie aßen, warf Bale ein Stück getrocknetes Dorschfleisch für die Meermutter und seinen Clanhüter ins seichte Wasser, und Torak, der keinen Clanhüter hatte, steckte als Opfergabe für den Wald eine Scheibe Elchblutwurst in einen Wacholderbusch. Es kam ihm zwar etwas merkwürdig vor, da der Wald eine Tagesreise per Boot in östlicher Richtung entfernt war, aber noch seltsamer wäre es gewesen, die Geste einfach zu unterlassen.
    Anschließend teilte Bale den restlichen getrockneten Dorsch mit ihm – der süß und überraschend unfischig schmeckte und auch ein bisschen zäh war – und Torak pflückte Muscheln von den Felsen. Sie aßen sie roh, indem sie sie vorsichtig auseinanderdrückten und mit der einen Schalenhälfte das köstliche, nahrhafte und glibberige orangefarbene Fleisch aus der anderen Hälfte schabten. Zum Schluss verspeisten sie einträchtig die Elchblutwurst. Genau wie die anderen Mitglieder des Robbenclans war auch Bale inzwischen nicht mehr ganz so engstirnig, wenn es darum ging, Wald und Meer zu vereinen, was das Leben für alle erleichterte.
    Da ihr Hunger immer noch nicht gestillt war, bereiteten sie
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