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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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kein A von einem O unterscheiden. Die Stimme von Abbé Morel rief sie zurück.
    »Wie lautet das Gebet des Herrn? Marie Poignard!«
    Die Prüfung der Kommunionkinder begann. Ein rotwangiges Mädchen stolperte aus der Bank und sagte stockend das Vaterunser auf. Im Chorgestühl entdeckte Sophie Baron de Laterre, der mit amüsiertem Gesicht Maries Gestammel verfolgte. Als der Baron Sophie sah, nickte er ihr freundlich zu. Sie erwiderte seinen Gruß – da tauchte für einen Moment hinter dem Baron eine rote bauschige Feder auf. War dort der junge Mann, der gestern Abend bei ihrer Mutter gewesen war? Sophie reckte sich, um sein Gesicht zu erkennen.
    »Sophie Volland, ich habe dich etwas gefragt!«
    Sophie zuckte zusammen. Abbé Morel blickte sie mit seinenkleinen, grauen Augen böse an. Sein Gesicht war so faltig und fleckig wie das eines Salamanders.
    »Credo in unum Deum …«
    Wie auf Kommando rasselte sie das Glaubensbekenntnis herunter, doch sie war noch nicht beim dritten Vers angekommen, als Abbé Morel sie unterbrach.
    »Du sollst auf meine Frage antworten! Wodurch unterscheidet sich der Leib des Herrn von gewöhnlicher Speise?«
    Sophie biss sich auf die Lippe. Auf jede Frage hatte sie sich vorbereitet, nur nicht auf diese. Abbé Morels Blick wurde immer böser. Sophie geriet in Panik. Wenn sie jetzt keine Antwort gab, war sie durchgefallen. Herrgott, was wollte der Pfarrer nur wissen?
    So laut, dass es mehrere Reihen weit zu hören war, knurrte Sophies Magen. Plötzlich wusste sie die Antwort.
    »Gewöhnliche Speise ist Nahrung für den Leib, das Brot des Herrn aber ist Seelenspeise – Brot des ewigen Lebens.«
    »Bravo, Sophie!«, rief der Baron und nickte ihr abermals zu.
    Abbé Morel entblößte mit einem säuerlichen Lächeln seine gelben Zähne und fuhr mit der Prüfung eines anderen Kindes fort. Sophie atmete auf. Doch so groß der Stein auch war, der ihr vom Herzen fiel, noch lag eine andere Hürde vor ihr, eine zweite Prüfung, die vielleicht noch schwerer war als die erste. Bei der heiligen Wandlung war sie darum so aufgeregt, dass es ihr fast den Magen umdrehte, als die Messdiener die Weihrauchfässchen schwenkten und der süße Duft ihr in die Nase stieg.
    »Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt, erbarme dich unser!«
    Der Augenblick war da! Abbé Morel verkündete einzeln dieNamen der Kinder, die an diesem Tag zum ersten Mal den Leib Christi empfangen sollten, und forderte ihre Eltern auf, sie an den Tisch des Herrn zu führen. Sophie griff nach der Hand ihrer Mutter. Sie war genauso feucht wie die ihre.
    »Möge diese Speise euch stärken, wenn Gott und der Teufel um eure Seele ringen.«
    Jetzt waren sie an der Reihe! Sophie musste die Zähne zusammenpressen, damit sie nicht aufeinander schlugen, als sie mit ihrer Mutter aus der Bank trat, und ihr Herz klopfte so heftig, dass das Blut in ihren Ohren rauschte wie die Loire bei Hochwasser. Seite an Seite gingen Mutter und Tochter zum Altar, genau so, wie Sophie es sich gewünscht hatte. Abbé Morel nahm eine Hostie aus dem Kelch, und Madeleine kniete nieder.
    »Was? Die Hure wagt es?«
    Ein Raunen erhob sich in der Kirche. Irritiert blickte der Pfarrer auf. Sophie sah sein Gesicht: Die buschigen Brauen gingen in die Höhe, der Kinnladen fiel herunter – erst jetzt wurde Abbé Morel gewahr, wer da vor ihm um das Brot des Herrn bat. Im selben Augenblick machte er einen Schritt zurück, als sähe er den Leibhaftigen vor sich.
    Sophie sandte ein Stoßgebet zum Himmel: »Bitte, lieber Gott, hilf!«
    Es war, als hielte die ganze Kirche den Atem an. Kein Laut, keine Regung, nur das Flattern eines Sperlings, der sich in das Gotteshaus verirrt hatte. Plötzlich ein Hüsteln in die Stille hinein, ein Hüsteln aus dem Chorgestühl. Abbé Morel schnellte herum. Der Baron war aufgestanden, mit ernster Miene nickte er dem Pfarrer zu. Der begriff nicht, erwiderte fragend den Blick.
    »Zum Teufel, worauf warten Sie noch!«
    Endlich begriff der Pfarrer, und das Wunder geschah: Abbé Morel drehte sich zu Madeleine um, und während er die Hostie in die Höhe hielt, knurrte er:
    »Der Leib Christi!«
    »Amen!«
    Als Sophie sah, wie ihre Mutter die Hostie empfing, schossen ihr die Tränen in die Augen. Gott hatte ihr Gebet erhört! Überglücklich sank sie auf die Knie.
    »Der Leib Christi!«
    »Amen!«
    Ihr Herz jubilierte, ihre Seele jauchzte, ein überirdischer Taumel packte sie, als sie die Augen schloss und die Lippen öffnete. Alles in ihr war
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