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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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1
    SIE BETRAT DAS LAND der unbegrenzten Möglichkeiten durch einen schlecht beleuchteten Tunnel. Es gab keine Marmorböden, kein spiegelndes Glas, keine großzügigen Stahlkonstruktionen. Enttäuscht lief sie unter flackernden Neonröhren durch ein Labyrinth aus schmutzig weißen Gipswänden, an denen selbst Werbeplakate ein Trost gewesen wären. Jeder Schritt schmerzte, als müssten sich die Füße erst wieder an die ungewohnte Tätigkeit des Laufens erinnern. Sie hatte Mühe, im Rhythmus zu bleiben und ihrem Vordermann nicht in die Hacken zu treten. Eingekeilt zwischen Rucksäcken und Rollkoffern trottete sie einem unbekannten Ziel entgegen und war plötzlich gar nicht mehr sicher, ob sie es überhaupt erreichen wollte. Doch es gab kein Entrinnen. An Weggabelungen standen bewaffnete Polizisten und achteten darauf, dass sie in der Herde blieb. Klaglos folgte einer dem anderen. Selbst die Kinder liefen gehorsam an der Hand ihrer Eltern. Wie die Lemminge, dachte sie.
    Ach, die Lemminge.
    Schon hoch über den Wolken hatte sich ihr, im Dämmerzustand zwischen Wachheit und Schlaf, die Erinnerung aufgedrängt. Auch nach so vielen Jahren war alles überraschend präsent. Die Lemminge waren ihr Schicksal gewesen. »Damals«, als sie im Land der Lemminge lebte und an einer Ingenieurschule studierte.
    Es war Anfang der 1980er-Jahre gewesen. Sie erinnerte sich genau. Die ersten Semesterferien standen kurz bevor. Sie wollten über den Innenhof in die Mensa laufen, als sich ihr ein Student in den Weg stellte und in einem Ton, der keine Verweigerung zuließ, nach ihrem Namen fragte.
    »Roswitha«, stammelte sie verunsichert.
    Und er sah sie eine Zeit lang mitleidig über seinen Brillenrand hinweg an und rieb sich dann mit dem Finger das linke Auge. Ein Vorgang, der unspektakulär gewesen wäre, hätte er nicht direkt durch die Fassung gegriffen. Seine Brille hatte nur ein Glas, und beide Bügel waren mit Heftpflaster angeklebt.
    »Hi, Rose«, sagte er nach einer langen Pause und nahm seine Brille ab. Die Bügel klappten wie gebrochene Flügel nach außen, doch er achtete nicht darauf.
    »Mick«, sagte er und sah sie an. »Mick wie … du weißt schon.«
    Er hatte hellgraue Augen mit einem Hauch Grün.
    »Hast du morgen Nachmittag Zeit?« In seinen Pupillen tanzten helle Punkte. »Für mich?«
    Sie fühlte, wie sie rot wurde, und hoffte, dass er es nicht bemerkte.
    »Ich brauche Lemminge«, sagte er.
    Sie sah ihm verwirrt dabei zu, wie er seine Brille wieder aufsetzte und umständlich das Heftpflaster an den Bügeln festdrückte. »Morgen, vier Uhr«, sagte er und sah ihr noch einmal in die Augen. »Und vergiss deine FDJ-Bluse nicht!« Er ging, ohne sich umzudrehen.
    Sie blieb in einem Zustand zurück, für den sie im Nachhinein nur das Wort »verdattert« fand, denn es schloss, neben der Verunsicherung, den Zweifel an der eigenen Zurechnungsfähigkeit ein. Was waren Lemminge? Und wozu sollte sie ihre ungeliebteJugendverbandsbluse anziehen? War er ein Tierfreund, der Sex in Verkleidungen liebte? Oder hatten ihn die Genossen geschickt und alles war nur ein Anwerbeversuch der Partei?
    Zu Hause hatte sie sofort im Lexikon nachgeschlagen und mit Entsetzen gelesen, dass Lemminge stummelschwänzige Wühlmäuse waren, die kollektiv in den Tod sprangen.
    Auch den Lemmingen, in deren Mitte sie stoisch durch die Flughafengänge taumelte, traute sie einen gemeinsamen Selbstmord zu, und sie war erleichtert, als sie endlich eine Halle erreichten. Doch auch hier durfte niemand den Tross verlassen. Vor ihnen lag eine mit schwarzen Seilen markierte Slalomstrecke. Brav formierten sich alle zu einer ordentlichen Reihe und durchliefen den Parcours im Gänsemarsch. Unter der Decke hingen große Bildschirme, die ihnen zeigten, was am Ende auf sie zukommen würde. In einem Werbefilm prüfte ein freundlicher Offizier den Pass einer Chinesin. Es folgte eine Spanierin, dann ein Afrikaner. Deutsche schienen für die Einreise nicht vorgesehen zu sein.
    In den Nächten vor ihrem Abflug hatte sie wach gelegen und Zwiegespräche mit Migrationsoffzieren geführt. Es war ihre erste Amerikareise, und wenn sie den Schilderungen ihrer Freunde Glauben schenkte, dann stand ihr in wenigen Minuten ein Martyrium bevor. »Eine falsche Antwort, und sie schicken dich zurück!«
    Ihre Angst speiste sich aus der Einsicht, dass ihr englischer Wortschatz nur aus Textzeilen alter Rocksongs bestand. Sie war nicht sicher, ob es klug wäre, auf die Frage nach dem Grund ihrer Reise
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