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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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TEIL1
Kapitel 1
    Mein Rezept gegen Stress lautete jahrelang: Schwimmen. Es war mein Mittel gewesen, durch das Pubertätschaos zu kommen. Die Launen, die Langeweile, die Lustlosigkeit auf alles, der permanente sexuelle Notstand, die Aggressionen: all das verschwand im Wasser. Man musste nicht viel reden. Es ging nicht so ruppig zu wie beim Fußball. Ich kraulte der Scheisspubertät einfach davon. Freundschaften schloss ich keine. Mit diesen Schwimmtypen gab es nicht viel zu besprechen. Wir schwammen um die Wette, hin und her. Sekunden waren ein Thema. Zugtiefe, Wendetechnik, die Trainingsmethoden von Mark Spitz, der sich Gewichte um den Leib schnürte. Nach dem Training saß man im Vereinslokal vor seiner Fanta und schaute sich Aufzeichnungen von den Wettkämpfen der großen Stars auf einem Fernsehmonitor an, der zwischen Geweihen an die Stirnwand geschraubt war. Am Wochenende waren dann die eigenen Wettkämpfe dran. Das ging so, bis ich siebzehn war. Dann tauchte Nadja in meiner Parallelklasse auf. Sie kam aus einer anderen Stadt und hatte die Schule wechseln müssen, da ihr Vater eine neue Stelle angenommen hatte. Ich glaube nicht, dass sie sich für sehr viel mehr als meinen Turnierschwimmerkörper interessierte. Aber diese Begegnung hatte das Aus für meine Schwimmerkarriere bedeutet. Ich entdeckte den Sex und kurz darauf die Zigaretten. Seitdem war ich fast nie mehr Bahnen geschwommen.
    Ich war ein wenig aus der Übung, spürte aber schon bald wieder die Reflexe, die ich mir als Jugendlicher antrainiert hatte. Der Pool von Hillcrest war sensationell. Er war nur zu zwei Dritteln überdacht, sodass man oft in lichtdurchflutetes, glitzerndes Hellblau eintauchte. Die Monotonie der Bewegung tat immer ihre Wirkung. Ich wurde ruhig. Siebenundzwanzig Minuten lang vergaß ich die ganzen Bücher und Aufsätze, die ich noch lesen musste, und kraulte meine fünfzehnhundert Meter. Manchmal kam mir sogar die Antwort auf eine Frage, die ich schon seit ein paar Tagen mit mir herumgetragen hatte. Ja, Schwimmen mochte ein wenig autistisch sein, aber es hatte auch etwas Meditatives.
    Bis sich an diesem Morgen eine schlanke Gestalt auf der Bahn neben mir durchs Wasser schlängelte. Viel mehr als den schwarzen Schwimmanzug und die verführerischen Linien darunter konnte ich durch die Chlorbrille nicht erkennen. Aber das reichte. Ich kam erst gar nicht auf den Gedanken, vor ihr davonzukraulen. Im Gegenteil. Ich passte mich ihrem Tempo an, was mir mühelos gelang, und stieg der besseren Perspektive wegen im geeigneten Augenblick auf Brustschwimmen um.
    Sie schwamm ganz gut, amateurhaft, aber mit Kraft und Ausdauer. Von ihrem Gesicht sah ich so gut wie nichts. Sie trug eine eng anliegende Badekappe und eine Chlorbrille. Als sie fertig war und sich am Beckenrand aus dem Wasser stemmte, sah ich ihren gut trainierten Rücken. Ich konnte die Augen nicht von ihr nehmen, bis sie in der Damenumkleide verschwunden war. Innerhalb weniger Minuten stand ich angezogen am Ausgang des Pools und suchte vergeblich einen Vorwand, in der Eingangshalle herumzulungern. Weder gab es eine Kasse, wo man etwas hätte kaufen können, noch einen Spiegel mit einem Föhn oder einen Aushang. Ich zog meine Schuhe aus, entfernte aus einem der beiden den Schnürsenkel und fädelte ihn umständlich wieder ein. Dann kam sie.
    »Hi«, sagte sie, bevor ich etwas herausbrachte. Und schon war sie vorbei. Ihre schwarzen Locken waren noch feucht, flogen aber trotzdem im Wind. Ich hätte ihr leicht folgen können. Wir saßen ja beide in Miss Goldensons Filmkurs. Ich hätte sie fragen können, ob sie Eisenstein mochte, oder ob sie mit der Filmtheorie von Christian Metz klarkam. Das entsprechende Referat war ja an sie gefallen, während Todorov an mich ging. Aber ich fragte sie gar nichts, sondern schaute ihr nach. Schließlich war sie die Freundin von David Lavell.

Kapitel 2
    Ich kam im September 1987 nach Hillcrest. Das Losverfahren hatte diese Universität für mich ausgewählt. Der Ort klang verlockend. Nicht nur weil der Campus in Südkalifornien und außerdem ziemlich nah am Meer lag. Es war das Renommee eines der wissenschaftlichen Institute, das mich in seinen Bann zog. Von den Professoren, die dort unterrichteten, hatte ich noch nie gehört. Als ich aber damit begann, Erkundigungen über Hillcrest einzuziehen, stieß ich überall auf sie und ihre Arbeiten.
    Der meistgenannte Name war der des Begründers einer neuen Denkschule, die dort entstanden war: Jacques De
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