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Es begann im Grand Hotel

Es begann im Grand Hotel

Titel: Es begann im Grand Hotel
Autoren: Catherine Mann
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PROLOG
    Juli, vor fünf Monaten
    Brooke Garrison bestellte sich zum ersten Mal in ihren achtundzwanzig Jahren einen hochprozentigen Cocktail.
    Sie griff nach dem großen bunten Glas, das ihr der ältliche Barkeeper im Foyer des „Garrison Grand“ reichte. Erschrocken sah sie, wie ihre Hand zitterte. Hinter ihr lag allerdings auch ein schrecklicher Tag, Brooke fühlte sich immer noch völlig durcheinander. Das Testament ihres Vaters war verlesen worden – und sie hatte gerade von dem Doppelleben erfahren, das er geführt hatte.
    „Danke“, sagte sie und sah verstohlen auf das Namensschild des Mannes. „Donald.“
    „Gern geschehen, Miss Garrison.“ Er schob ihr so elegant eine weitere Serviette zu, wie der Pianist zum nächsten Lied überging. „Und bitte nehmen Sie mein herzliches Beileid für Ihren Vater entgegen. Er wird uns allen sehr fehlen.“
    Das sagten mehr Menschen zu ihr, als sie sich vorgestellt hätte. „Sie sind sehr freundlich, Donald. Noch einmal vielen Dank.“
    „Keine Ursache. Lassen Sie es mich wissen, falls Sie noch etwas brauchen.“
    Was sie brauchte, konnte er ihr nicht geben. Brooke wünschte, sie könnte diesen fürchterlichen Tag ein für alle Mal auslöschen und von vorn beginnen. Oder dass sie wenigstens aufhören könnte, ständig daran zu denken – geschweige denn darüber zu reden. Die Empfangsdame ihres Bruders hatte ihr schon vier Mal auf die Mailbox gesprochen. Aber Brooke weigerte sich, darauf zu reagieren.
    Zögernd nippte sie an dem Cocktail und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Geistesabwesend betrachtete sie den Schein der Kerzenflamme, der sich in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit brach. Vielleicht lagen irgendwo auf dem Grund dieses Glases die Antworten auf ihre Fragen. Was hatte ihr die Mutter geraubt? Und warum hatte ihr Vater seit so vielen Jahren die Hälfte seiner Zeit mit einer anderen Frau verbracht?
    Die verbitterten Worte ihrer Mutter gingen Brooke einfach nicht aus dem Sinn. Nach der Testamentseröffnung an diesem Morgen hatte Bonita gesagt: „Der hinterhältige Mistkerl. Ich bin froh, dass er tot ist.“
    Eine wirklich großartige Art zu erfahren, dass John Garrison nicht nur fünf Kinder gezeugt hatte, sondern sechs. Abgesehen von ihren drei Brüdern und der eineiigen Zwillingsschwester hatte Brooke eine Halbschwester, von deren Existenz sie gerade erst erfahren hatte. Von dieser Schwester hatte er ihnen nie ein Wort erzählt, solange er noch am Leben gewesen war. Stattdessen hatte er es vorgezogen, ihnen diese Neuigkeit in seinem Testament mitzuteilen, in dem er Cassie Sinclair – dieser neu entdeckten Schwester – einen nicht zu verachtenden Anteil am Garrison-Vermögen vermachte.
    Nicht dass es Brooke um das Geld ging. Doch der Verrat ihres Vaters tat weh.
    Stimmengemurmel und das unverkennbare Klirren von Gläsern, die aneinanderstießen, erinnerten Brooke an die Menschen um sie herum – Menschen, die definitiv glücklicher waren als sie. Im Augenblick war ihr nicht nach fröhlichen Leuten zumute. Brooke wich den Blicken einiger Männer aus, die versuchten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    Seufzend setzte sie das langstielige Glas wieder an die Lippen. Wie alles in diesem Hotel, angefangen bei den frischen Blumen und bis zu den Tischdecken aus feinstem Damast, war auch der Cocktail von allererster Güte. Trotzdem schmeckte er für Brooke nach nichts. Sie fühlte nichts außer ihrem Kummer.
    Bisher hatte sie insgeheim immer ihre Mutter dafür verantwortlich gemacht, dass ihr Vater so häufig geschäftlich verreist war. Brooke hatte geglaubt, dass Bonita ihren Dad vertrieben hatte. Jetzt fragte sie sich, ob es vielleicht genau andersherum gewesen war. Womöglich hatte das Verhalten ihres Vaters Bonita in die Verzweiflung getrieben?
    Wie sollte sie klar denken, wenn die Trauer um einen ihr so wichtigen Menschen sie innerlich geradezu verzehrte? Das Hotel war angefüllt mit Erinnerungen an ihren Dad. Jeden einzelnen Einrichtungsgegenstand hatte er nach seinen persönlichen Wünschen gestalten lassen – vom eindrucksvollen Kristallleuchter in der Bar bis zu den vielen hoch aufragenden Säulen.
    Gedankenverloren berührte Brooke mit der Fingerspitze den Rand ihres Glases. Bisher hatte sie noch nie einen hochprozentigen Cocktail getrunken.
    Aber heute war kein gewöhnlicher Tag.
    Einen Moment lang betrachtete sie die Säulen in der Hotelhalle vor der Bar. Plötzlich spürte sie, dass sich etwas veränderte. Der Abend war so ungewöhnlich,
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