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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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Prolog
    Anfang Dezember 2011 saß ich mit Kollegen in einem Restaurant in Berlin-Kreuzberg, es gab Gans und Rotwein, wir diskutierten über die Zwickauer Terrorzelle. Doch es ging nicht nur um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, es ging um viel mehr. Die DDR sei schuld, die autoritäre Erziehung, sagten die Kollegen, außerdem wisse man ja, dass im Osten der Rechtsextremismus Mainstream sei, eine Aufarbeitung der Nazi-Zeit habe nie stattgefunden. Mich machte das wütend. Ich habe mehr Jahre meines Lebens in der Bundesrepublik als in der DDR verbracht, ich habe fünf Jahre im Ausland gelebt, aber auf einmal fühlte ich mich wieder wie in den Neunzigern, als ich mich schämte zu sagen, dass ich aus dem Osten komme. Aus dem Osten kamen nur Nazis, Stasi-Leute und Arbeitslose.
    Erst vier Wochen vorher war das Trio aufgeflogen. Jahrelang hatte sich kaum jemand groß drum gekümmert, dass neun Einwanderer und eine Polizistin in Deutschland hingerichtet wurden. Dönermorde, so wurden die Verbrechen verniedlichend genannt. Türken untereinander meucheln sich, so klang das. Jetzt war es ein Problem der Ostdeutschen. Wieder hatte es nichts mit den Westdeutschen zu tun. In den folgenden Tagen achtete ich darauf, und mir fiel ein Muster auf. Es gab immer wieder den gleichen Reflex: Taucht ein Problem in Ostdeutschland auf, wird es gleich zum »typisch ostdeutschen« Thema. Gibt es in Westdeutschland ein Problem, ist es gesamtdeutsch.
    Uwe Mundlos war 16, als die Mauer fiel, nur wenig älter als ich. Wir sind in der DDR groß geworden. Als er in Jena eine Ausbildung anfangen sollte, ging ich zur Schule in Eisenhüttenstadt. Beide Städte sind ähnlich groß, beides Industriezentren, die nach der Wende viele Arbeitsplätze verloren. Wir gehören zu einer Generation, die während der Pubertät zwischen zwei Ländern hing. Wissenschaftler sprechen gar von der »verlorenen Generation«.
    Ich begann alles über ihn zu lesen, was es gab. Doch das, was mich interessierte, stand nirgendwo. Wie wurde er zum Nazi? Was hat ihn zum Mörder gemacht, die DDR oder die Nachwendezeit? Erinnerungen an die neunziger Jahre kamen hoch, die Leere, die Orientierungslosigkeit. Auch ich driftete damals ab, nicht in die rechte Szene, sondern zu christlichen Fundamentalisten. Ich wollte sogar Missionarin werden. Hatte nicht auch ich Sehnsucht nach Radikalität, nach einfachen Wahrheiten gehabt wie Mundlos?
    Warum rutschte Mundlos ab, warum kam ich in der Bundesrepublik an? Was ist das für ein Land?
    Die Mauer war weg, aber es kam mir so vor, als wäre die Einheit nicht passiert, als würde der Osten nicht dazugehören. Jetzt kamen sie wieder, die Artikel über die rote Diktatur, den Töpfchen-Terror in den Krippen, über die Berufstätigkeit der Mütter, die autoritäre Erziehung. Forschungen widerlegen die These, dass es einen Zusammenhang zwischen der Erwerbstätigkeit der Mutter und der Gewaltneigung gibt. Männlichen rechtsextremen Gewalttätern habe es eher an männlichen Vorbildern gefehlt, schreibt die Arbeitsstelle für Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit am Deutschen Jugendinstitut in Halle. Ob das im traditionellen westdeutschen Alleinverdiener-Modell gegeben war, sei fraglich. Je länger die DDR zurückliegt, desto holzschnittartiger wird die Wahrnehmung.
    Drei Wochen nachdem Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 in einem Wohnwagen in Eisenach tot aufgefunden wurden, lese ich in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel unter der Überschrift »Das Gift der Diktatur«. Darin wird behauptet, die Terrorserie sei ein Rachefeldzug der postsozialistisch erzogenen Jugendlichen gegen die pluralistische Gesellschaft im Westen.
    Schon nach den ersten Sätzen fällt es mir schwer, weiterzulesen. Schuld seien die Eltern, so die These, weil sie den Kindern kein Mitgefühl und keine Emotionen vermittelt haben. »Wer diese Welt im Rückblick betrachtet, stößt bisweilen auf eine erstaunlich niedrige Betriebstemperatur bei der Aufzucht des Nachwuchses.« Wieder so ein vernichtender Satz. Er klingt so eisig.
    Ähnlich klingt das bei Klaus Schroeder, einem Historiker und Politikwissenschaftler, der an der FU Berlin lehrt. »Verwahrlosung, höhere Gewaltbereitschaft und fremdenfeindliche Einstellungen waren im Kern schon vor 1989 in der DDR stärker ausgeprägt als in der Bundesrepublik«, schreibt er in einem Beitrag für den Tagesspiegel . Auch er führt das Neonazi-Potenzial auf die Vollerwerbstätigkeit der Mütter und die
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