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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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ihn mit einer so kindischen
     Geschichte hereingelegt hatte.
    «Manchmal sehe ich sie», flüsterte Andrew mit bebender Stimme.
    Der Schriftsteller starrte ihn offenen Mundes an.
    «Sie sehen sie?»
    «Ja, Mr.   Wells», wiederholte der Junge mit einem so glücklichen Lächeln, als wäre ihm eine Offenbarung zuteilgeworden, «manchmal sehe
     ich sie.»
    Wells wusste nicht, ob Andrew sie wirklich sah oder ob er |709| nur glauben wollte, sie zu sehen, doch darauf kam es auch gar nicht an, da die Wirkung in beiden Fällen dieselbe zu sein schien.
     Die Lüge hielt ihn am Leben. Er sah, wie der Junge mit fast kindlich entrücktem Gesicht in das Sonnenrot schaute, oder vielleicht
     in das, was «dahinter» war, und fragte sich unwillkürlich, wer von ihnen beiden der Betrogene war; der zweiflerische Schriftsteller,
     der nicht einmal seinen eigenen Erfindungen glauben konnte, oder der verzweifelte junge Mann, der mit blindem Vertrauen seine
     schöne Lüge gepflegt und sich daran geklammert hatte, da ja auch das Gegenteil nicht zu beweisen war.
    «Hat mich gefreut, Sie wiederzusehen, Mr.   Wells», sagte Andrew und reichte ihm die Hand.
    «Mich auch», erwiderte Wells und schüttelte sie.
    Er schaute dem Jungen nach, der dem goldenen Morgenlicht schleppenden Schrittes über die Brücke entgegenging. Parallele Welten.
     Hatte er ganz vergessen, was er sich ausgedacht hatte, um das Leben des jungen Mannes zu retten? Aber was, wenn es sie wirklich
     gab? Stimmte es, dass jede Wahl, die der Mensch traf, eine Verzweigung der Welt bewirkte? Eigentlich war der Gedanke naiv,
     bei jedem Dilemma biete sich nur eine Alternative an. Was passierte mit den Welten, für die man sich nicht entschieden hatte,
     landeten die im Ausguss, warum hatten die nicht dasselbe Existenzrecht wie die anderen? Wells bezweifelte sehr, dass die Gestaltung
     des Universums allein vom launigen Willen des Menschen, dieser wankelmütigen und furchtsamen Kreatur, abhängen sollte. Logischer
     war die Vermutung eines sehr viel mannigfaltigeren, unergründlicheren Universums, welches das Fassungsvermögen unserer Sinne
     weit überstieg, und dass, wenn der Mensch sich vor zwei oder mehr |710| Alternativen gestellt sah, er zwangsläufig alle wählte, weil seine Fähigkeit zur Auswahl im Grunde eine Illusion war. Die
     Welt teilte sich also fortwährend in immer neue Welten auf, welche die Weite und Komplexität des gesamten Universums spiegelten,
     ihr gesamtes Potential ausschöpften, nebeneinander existierten und sich manchmal nur durch solche Unscheinbarkeiten voneinander
     unterschieden wie die Zahl der Fliegen, da auch die Entscheidung, eines dieser lästigen Insekten totzuschlagen, ein Auswahlverfahren
     war, das eine neue Welt zur Folge hatte.
    Wie viele Fliegen hatte er selbst schon getötet oder am Leben gelassen, oder wie viele dieser unglücklichen Wesen, deren ärgster
     Feind das Fensterglas zu sein schien, hatte er verletzt, indem er ihnen die Flügel ausriss, während er über ein Problem beim
     Schreiben nachgrübelte? Das war vielleicht ein lächerliches Beispiel, dachte Wells, da seine Entscheidungen in dieser Sache
     den Lauf der Welt wohl nicht unwiderruflich durcheinandergebracht haben würden. Ein Mensch konnte sein ganzes Leben darauf
     verwenden, Fliegen ums Leben zu bringen, den Lauf der Geschichte würde er dadurch trotzdem nicht verändern. Aber es gab natürlich
     sehr viel weitreichendere Entscheidungen, und er musste wieder an das zweite Mal denken, an dem Gilliam Murray ihn aufgesucht
     hatte. Hatte dieser Mann nicht auch zwischen zwei Optionen wählen müssen und schließlich eine Entscheidung getroffen? Machttrunken
     hatte Wells damals entschieden, die Fliege totzuschlagen, und dadurch war eine Welt entstanden, in der es ein Unternehmen
     gab, das Reisen in die Zukunft verkaufte, ein absurdes Universum, in dem er jetzt selbst festsaß. Was wäre passiert, wenn
     er sich anders entschieden |711| hätte, Murray geholfen hätte, seinen Roman zu veröffentlichen? Dann würde er in einer ganz ähnlichen Welt leben, in der es
     nur eine Firma namens ZEITREISEN MURRAY nicht gäbe und den sogenannten Zukunftsromanen noch ein Machwerk mit dem Titel
Hauptmann Derek Shackleton – die wahre und abenteuerliche Geschichte eines Helden der Zukunft
von Gilliam F.   Murray hinzugefügt werden müsste.
    In einer fast endlosen Zahl paralleler Welten, dachte Wells, würde alles Mögliche, das passieren könnte, passieren. Oder,
     was dasselbe
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