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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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aber es gibt auch, und das sind die schlimmsten,
     prachtvolle Anzüge, eines Edelmannes würdig, die sich mit der Zeit als schlotternde Lumpen erweisen. Bis zu diesem Moment,
     bevor er nach reiflicher Überlegung den ersten Buchstaben aufs Papier setzte, konnte er alles schreiben, wozu er Lust hatte,
     wirklich alles, und das ließ sein Blut förmlich sprudeln in grenzenlosem Freiheitsgefühl, |695| das ebenso herrlich wie jedoch auch vergänglich war, denn er wusste, dass es in dem Augenblick versiegen würde, in dem er
     sich für eine Geschichte entschied und damit alle anderen unweigerlich verlor.
    Er betrachtete die Sterne am Himmel mit einem gleichsam arkadischen Lächeln. Dann überkam ihn ein Anflug von Furcht. Ihm war
     gerade ein Gespräch eingefallen, das er vor einigen Monaten mit seinem Bruder Frank geführt hatte, als er nach langer Zeit
     wieder einmal das Haus in Nyewood besucht hatte, in dem, wie alter Plunder auf dem Dachboden, seine Familie zusammenklumpte.
     Nachdem die anderen zu Bett gegangen waren, waren er und Frank rauchend und mit einem Bier in der Hand vor die Tür getreten,
     ohne besonderen Grund, einfach nur, um sich vom Sternenhimmel berauschen zu lassen, der in jener Nacht heller glänzte als
     die ordensgeschmückte Brust eines tapferen Generals. Unter einem solchen Sternenzelt, das an manchen Stellen auf etwas obszöne
     Weise die Tiefe des Weltalls ahnen ließ, kamen einem die Angelegenheiten der Menschen schrecklich unbedeutend vor und das
     Leben ein bisschen wie ein kindisches Spiel. Wells nahm einen Schluck von seinem Bier und überließ es Frank, diese uralte
     Stille zu brechen. Obwohl ihm das Leben übel mitgespielt hatte, strahlte sein Bruder wie immer vor Optimismus, weil er wahrscheinlich
     erkannt hatte, dass dies die einzige Art war, nicht in Hoffnungslosigkeit unterzugehen, und so suchte er seinen Optimismus
     an konkreten Dingen festzumachen, wie jedermann seinen ganz persönlichen Stolz an dem Wissen, Untertan des Britischen Empire
     zu sein. Vielleicht war das der Grund, warum Frank angefangen hatte, Lobreden auf die Kolonialpolitik des Landes zu |696| schwingen, woraufhin Wells, der die despotische Art verabscheute, mit der England sich die Welt unterwarf, sich gezwungen
     gesehen hatte, die schädlichen Auswirkungen der Kolonialisierung auf die fünf Millionen Eingeborenen von Tasmanien zu erwähnen,
     die nach kürzester Zeit als so gut wie ausgerottet galten. Dabei waren die Tasmanen nicht von den höheren Werten der englischen
     Kultur überzeugt, sondern durch die überlegene Technologie des Empire erobert worden, so wie auch England von einem anderen
     Land mit überlegener Technologie erobert werden könnte, hatte Wells dem betrunkenen Frank zu erklären versucht. Daraufhin
     hatte sein Bruder gelacht und stolz verkündet, es gebe in der bekannten Welt keine Technologie, die der des Empire überlegen
     sei. Wells hatte darauf verzichtet, mit seinem Bruder zu diskutieren, doch nachdem dieser ins Haus zurückgegangen war, hatte
     er noch lange draußen gestanden und besorgt zu den Sternen hinaufgeschaut. In der bekannten Welt vielleicht nicht; aber was
     war mit den anderen?
    Jetzt stand er da und betrachtete das Firmament mit demselben Argwohn, besonders den Planeten Mars, ein Pünktchen, kaum größer
     als der Kopf einer Stecknadel. Aber trotz dessen unscheinbarer Präsenz am Himmel hielten seine Zeitgenossen es für möglich,
     dass er von Menschen bewohnt war. Nicht umsonst war der rote Planet vom Gespinst einer zarten Atmosphäre umgeben, und wenn
     es auch keine Meere auf ihm gab, so doch Polkappen aus kohlenstoffhaltigem Eis. Alle Astronomen waren sich darin einig, dass
     nach der Erde dies der Planet im Sonnensystem war, der die besten Voraussetzungen für die Entstehung von Leben besaß. Und
     was anfangs die Mutmaßung |697| einiger weniger gewesen war, hatte sich zur Gewissheit von vielen verdichtet, als der Astronom Giovanni Schiaparelli vor einigen
     Jahren auf der körnigen Oberfläche Linien entdeckt hatte, die durchaus Kanäle sein konnten; ein unwiderlegbarer Beweis für
     die Ingenieurskunst der Marsmenschen. Und wenn es solche wirklich gab, waren sie dann den Erdenbewohnern unterlegen? Was aber,
     wenn sie keine Primitivlinge waren, die eine menschliche Weltraummission willkommen hießen wie die Eingeborenen der Neuen
     Welt, sondern eine Spezies, die der menschlichen Intelligenz weit überlegen war und darauf herabblickte wie er auf Affen
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