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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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und
     Lemuren? Was geschähe, wenn sie über die Technologie verfügten, den Weltraum zu durchqueren und auf der Erde zu landen, getrieben
     vom selben Eroberungsdrang wie die Menschen? Wie würden sich seine eroberungsgewohnten Zeitgenossen denen gegenüber verhalten,
     die ihrerseits sie zu erobern, ihre Werte und ihr Selbstwertgefühl zu vernichten gedachten, wie sie selbst es unter dem Zuspruch
     von Menschen wie Frank mit den Völkern jenseits der Ozeane taten? Wells strich sich über den Schnurrbart und bedachte die
     Möglichkeiten eines solchen Gedankens, stellte sich sogleich eine Invasion von Marsmenschen vor, die in dampfgetriebenen blitzenden
     Kugeln vom Himmel regneten und auf den heimeligen Dorfangern von Woking landeten.
    Er fragte sich, ob das der Stoff für seinen nächsten Roman sein könnte. Ein erregendes Kribbeln unter der Kopfhaut sagte ihm,
     dass er auf der richtigen Fährte war; er wusste nur noch nicht, was sein Verleger davon halten würde. Eine Invasion vom Mars?
     Hatte er recht gehört? Das fiel ihm ein, nachdem er eine Zeitmaschine erfunden |698| hatte; einen Wissenschaftler, der an Tieren herummurkste, um ihnen Menschlichkeit zu verleihen; einen anderen Wissenschaftler,
     der an Unsichtbarkeit litt? Nachdem sein Roman
Der Besuch
von der Kritik begeistert aufgenommen worden war, hatte Henley sein Talent gelobt; allerdings hegte Henley ernste Zweifel,
     ob solchermaßen aus dem Zylinder gezogene Bücher tatsächlich Literatur waren. Wenn er wollte, dass sein Name einen nachhaltigeren
     Ruf erlangte als die Marke einer Soße oder einer neuen Seife, würde er baldigst damit aufhören müssen, sein grandioses Talent
     an Romane zu verschwenden, die, das wollte keiner leugnen, ein Fest für die Sinne waren, denen aber doch die nötige Tiefe
     fehlte, um sich in den Köpfen der Leser dauerhaft zu verankern. Wenn er ein glänzender Schriftsteller werden wollte und nicht
     nur ein kenntnis- und erfindungsreicher Erzähler, musste er sich mehr abverlangen als diese in wenigen Tagen hingeschriebenen
     Zukunftsmärchen. Ja, Literatur war etwas mehr; viel mehr. Wahre Literatur musste den Leser rühren, schmerzen, seine Wahrnehmung
     der Dinge verändern, ihn mit hartem Wurf in den Abgrund der Hellsichtigkeit stürzen.
    Die Frage war: Verstand er denn die Welt auf eine so profunde Weise, dass er ihre Wahrheiten erkennen und weitergeben konnte?
     Konnte er mit seinen Worten die Leser verändern? Und wenn: Zu was sollte er sie machen? Zu besseren Menschen wahrscheinlich.
     Aber mit welcher Art von Geschichten könnte er das bewirken? Was musste er ihnen erzählen, um sie in jenen Zustand der Einsichtigkeit
     zu versetzen, von dem Henley sprach? Würde er die Leser aus ihrem Alltagstrott reißen, wenn er sie mit einer schleimigen Masse
     mit sabberndem Maul, tellergroßen Augen und wild |699| um sich schlagenden Tentakeln konfrontierte? Wenn er ihnen solche Marsbewohner präsentierte, dachte er, würde den Untertanen
     Ihrer Majestät eher der Appetit vergehen.
    Die Stille der Nacht wurde durch etwas unterbrochen, das ihn aus seinen Gedanken riss. Es waren allerdings keine fliegenden
     Untertassen aus dem Weltraum, sondern nur der Pferdekarren des jungen Shaeffer. Wells sah ihn vor der Tür seines Hauses halten
     und musste lächeln, als er den halb schlafenden Jungen auf dem Bock erkannte. Der Kleine stand schon vor Tagesanbruch auf,
     wenn es ein paar Pennys zu verdienen gab. Wells nahm seinen Mantel, stieg die Treppe hinab und verließ geräuschlos das Haus,
     um Jane nicht aufzuwecken. Er wusste, dass seine Frau nicht gutheißen würde, was er zu tun gedachte, und er konnte ihr auch
     nicht erklären, warum er es tun musste, obwohl es nicht gerade das war, was man von einem Gentleman erwarten würde. Er begrüßte
     den Jungen, warf einen zustimmenden Blick auf die Ladung – der Junge hatte sich diesmal große Mühe gegeben – und stieg zu
     ihm auf den Bock. Der Junge ließ die Zügel schnalzen, dann setzten sie sich in Richtung London in Bewegung.
    Unterwegs wechselten sie ein paar belanglose Worte, die hier wiederzugeben ich mir sparen kann. Wells ließ die Stille auf
     sich wirken, betrachtete mit selbstvergessener Faszination die schlafende, ahnungslose Welt um sich herum, die einem Angriff
     von Weltraumwesen schutzlos ausgeliefert sein würde. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den jungen Shaeffer und fragte sich,
     wie ein Mensch mit einem schlichten Gemüt wie dieser, für den die Welt
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