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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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schüttelte und sich sagte, dass dies die letzte Zeitreise sein würde, die er organisiert |706| hatte, und dass er endgültig die Nase voll habe von unfähigen Mitarbeitern und diesem verdammten Dreistling, der seine Hauswände
     mit Kuhdung beschmierte, dass jetzt der Moment gekommen sei, seinen eigenen Tod zu inszenieren, sich von einem der schrecklichen
     Drachen zerfleischen zu lassen, die die vierte Dimension bewohnten, und von dessen messerscharfen Zähnen sich Charles Winslow
     in einem bösen Albtraum zermalmt fühlte, aus dem er schreiend und schweißgebadet erwachte und die beiden chinesischen Prostituierten
     in seinem Bett damit zu Tode erschreckte, während sein Cousin Andrew, der zu dieser Zeit am Geländer der Waterloobrücke lehnte
     und das Morgenrot bewunderte, einen Mann auf sich zukommen sah, der ihm irgendwie bekannt vorkam.
    «Mr.   Wells?», fragte er, als der Mann an ihm vorbeiging.
    Der Schriftsteller blieb stehen, betrachtete den jungen Mann und versuchte sich zu erinnern, wo er ihn schon einmal gesehen
     hatte.
    «Wissen Sie nicht mehr, wer ich bin?», fragte dieser. «Andrew Harrington.»
    Da erinnerte sich Wells; es war der junge Mann, dem er vor einigen Wochen das Leben gerettet hatte, durch eine mit Hilfe von
     dessen Cousin inszenierte Komödie, in der sie diesem Harrington vorgemacht hatten, er habe sich mit Jack the Ripper angelegt,
     dem Ungeheuer, das im Herbst 1888   Whitechapel in Angst und Schrecken versetzt hatte.
    «Ja sicher, Mr.   Harrington, natürlich erinnere ich mich an Sie», entgegnete er voller Freude, dass der junge Mann immer noch am Leben und
     seine Arbeit daher nicht vergebens gewesen war. «Freut mich, Sie zu sehen.»
    «Und mich, Sie, Mr.   Wells», sagte Andrew.
    |707| Die nächsten Sekunden schauten sich beide einfältig lächelnd an.
    «Haben Sie Ihre Zeitmaschine inzwischen zerstört?», fragte Andrew schließlich.
    «Äh   … ja, ja», antwortete Wells hastig und versuchte das Thema zu wechseln. «Was machen Sie hier? Wollen Sie sich den Sonnenaufgang
     ansehen?»
    «So ist es», erwiderte Andrew und richtete den Blick zum Himmel, der in diesem Moment in den schönsten Orange- und Rosenfarben
     erstrahlte. «Obwohl, eigentlich versuche ich zu erblicken, was dahinter ist.»
    «Dahinter?», fragte Wells überrascht.
    Andrew nickte.
    «Wissen Sie noch, was Sie mir gesagt haben, als ich in Ihrer Zeitmaschine aus der Vergangenheit zurückkam?», fragte er und
     kramte dabei in seiner Jackentasche. «Sie sagten, ich hätte Jack the Ripper erschossen, obwohl in diesem Zeitungsartikel etwas
     ganz anderes stand.»
    Andrew zeigte ihm den vergilbten Zeitungsausschnitt, den er ihm schon in der Küche seines Hauses in Woking gezeigt hatte.
Jack the Ripper mordet weiter!
lautete die Schlagzeile, und dann wurden die grässlichen Verletzungen aufgelistet, die das Ungeheuer seinem fünften Opfer
     zugefügt hatte, der Prostituierten von Whitechapel, die der junge Mann liebte. Wells nickte und fragte sich unwillkürlich
     wie alle Welt seit damals, was aus diesem gewissenlosen Mörder geworden war, weshalb er plötzlich zu morden aufgehört hatte
     und wohin er verschwunden war, ohne eine Spur zu hinterlassen.
    «Meine Tat hatte aber eine Abzweigung in der Zeit hervorgerufen», fuhr Andrew fort, nachdem er den Zeitungsausschnitt |708| wieder eingesteckt hatte. «Eine Parallelwelt hatten Sie es, glaube ich, genannt. In jener Welt war Marie Kelly lebendig und
     glücklich mit meinem zweiten Ich vereint. Ich selbst befand mich leider im falschen Universum.»
    «Ja, ich erinnere mich», sagte Wells vorsichtig, da er nicht wusste, worauf der junge Mann hinauswollte.
    «Nun, Mr.   Wells, dadurch, dass ich Marie Kelly gerettet hatte, konnte ich meine Selbstmordabsichten vergessen und weiterleben. Und das
     tue ich jetzt. Ich habe mich mit einer bewundernswerten Frau verlobt und versuche, in ihrer Gesellschaft die kleinen Annehmlichkeiten
     des Lebens zu genießen.» Er machte eine Pause und schaute wieder zum Himmel. «Doch jeden Morgen bei Tagesanbruch komme ich
     hierher und versuche, diese Parallelwelt zu sehen, von der Sie mir erzählt haben, in der ich mutmaßlich an Marie Kellys Seite
     glücklich bin. Und wissen Sie was, Mr.   Wells?»
    «Was?», fragte der Schriftsteller und musste schlucken, weil er plötzlich fürchtete, der junge Mann könne sich auf ihn stürzen
     oder an den Jackenaufschlägen packen und in den Fluss zu werfen versuchen, aus Rache, weil er
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