Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
am Horizont aufhörte, auf eine außerirdische Invasion
     reagieren würde. Er stellte sich eine Abordnung von |700| Landbewohnern vor, die sich, unentschlossen ein weißes Fähnlein schwingend, der Stelle näherten, an dem das Marsraumschiff
     niedergegangen war, und deren naive Begrüßung die Außerirdischen mit einem blendenden Flammenblitz beantworten würden, einer
     Art Hitzestrahl, der das Land versengte und verkohlte Körper und qualmende Baumstümpfe hinterließ.
    Seine Gedanken an eine Marsinvasion verflogen, als sie in das schlafende London hineinfuhren, und er konzentrierte sich auf
     das, was er jetzt tun musste. Das Klappern der Hufe durchbrach die nächtliche Stille, als sie sich durch ein Gewirr von menschenleeren
     Gassen ihren Weg zur Greek Street suchten. Wells konnte sich ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen, als der Junge den
     Karren vor dem Gebäude von ZEITREISEN MURRAY zum Stehen brachte. Er warf einen Blick die Straße hinauf und hinunter und stellte
     befriedigt fest, dass sie wie ausgestorben lag.
    «Gut, mein Junge», sagte er und stieg vom Karren. «Fangen wir an.»
    Sie nahmen jeder zwei Eimer von der Ladefläche und gingen damit zum Haus. Möglichst jedes Geräusch vermeidend, tauchten sie
     ihre Quaste in die mit Kuhdung gefüllten Eimer und bestrichen damit die Fassade. Keine zehn Minuten später hatten sie ihre
     widerwärtige Arbeit verrichtet. Ein übelkeiterregender Gestank erfüllte die Straße, den Wells jedoch begeistert einatmete:
     Es war der Gestank seines Zorns, den er hatte hinunterschlucken müssen und der die ganze Zeit in seinem Inneren gegärt hatte.
     Der Junge sah erstaunt, wie Wells sich an dem Gestank berauschte.
    |701| «Warum tun Sie das, Mr.   Wells?», wagte er schließlich zu fragen.
    Wells starrte ihn sekundenlang mit lodernden Augen an. Einer so schlichten Seele musste es in der Tat absurd vorkommen, dass
     sich jemand zu nachtschlafender Zeit einer so überspannten wie ekelerregenden Tätigkeit hingab.
    «Weil es zwischen etwas tun und etwas nicht tun das ist, was ich tun kann.»
    Der Junge nickte verwirrt ob der rätselhaften Antwort und bereute wahrscheinlich schon, es überhaupt gewagt zu haben, die
     geheimen Beweggründe von Schriftstellern verstehen zu wollen. Wells bezahlte ihn und befahl ihm, nach Woking zurückzufahren.
     Er selbst würde bleiben, denn er hatte in London noch einige Dinge zu erledigen. Der Junge nickte erleichtert. Er wollte sich
     gar nicht vorstellen, was das für Dinge sein konnten. Er stieg auf den Karren, ließ die Zügel schnalzen und entschwand Wells’
     Blicken schließlich am Ende der Straße.

|702| XLIII
    Wells betrachtete die malerische Fassade von ZEITREISEN MURRAY und fragte sich wieder einmal, wie es möglich war, dass dieses
     kleine Theater die gewaltige Szenerie des zerstörten London aus dem Jahr 2000, wie Tom sie ihm beschrieben hatte, unter seinem
     Dach zu fassen vermochte. Es war ein Rätsel, das er irgendwann einmal würde lösen müssen, doch für den Moment vergaß er es
     besser, wenn er sich über die unleugbare Gerissenheit seines Rivalen nicht unnötig ärgern wollte. Er schüttelte den Kopf,
     um die Gedanken daran zu vertreiben, und betrachtete minutenlang voller Stolz das verrichtete Werk. Mit seiner Arbeit zufrieden,
     wandte er sich ab und ging in Richtung Waterloobrücke davon. Er kannte keinen besseren Platz, um den Sonnenaufgang über der
     Stadt zu beobachten. Einige Minuten seiner Zeit konnte er dafür erübrigen, zuzuschauen, wie der schwarze Nachthimmel dem Licht
     des heraufziehenden Tages wich und das Spiel der leuchtenden Farben begann, bevor er sich aufmachte, Henley in seinem Büro
     zu besuchen.
    Eigentlich war ihm jeder Vorwand recht, den Besuch bei seinem Verleger hinauszuzögern, da er sicher war, dass dieser sein
     neues Manuskript nicht gerade mit Begeisterung aufnehmen würde. Henley würde es natürlich veröffentlichen, |703| aber er würde sich auch wieder eine seiner Predigten anhören müssen, mit denen er ihn auf den Weg jener Schriftsteller hinzuleiten
     gedachte, die dazu bestimmt waren, in die Literaturgeschichte einzugehen. Warum tat er es dann nicht, warum ging er nicht
     endlich auf die Vorschläge seines Verlegers ein?, fragte er sich plötzlich. Ja, warum nicht endlich aufhören, für eine einfältige
     Leserschaft zu schreiben, die sich leicht für jede halbwegs einfallsreiche Abenteuergeschichte begeistern ließ. Er könnte
     sich wirklich auf eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher