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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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andere Art von Geschichten verlegen, die seine Leser tief in der Seele rührte; einen Roman schreiben,
     dessen Lektüre ihnen wie eine Offenbarung vorkommen musste, so wie Henley es forderte.
    In solchen Gedanken versunken, nahm Wells die Charing Cross Road und kam am Strand heraus. Der Tag hatte inzwischen still
     das Regiment übernommen, die Nachtschwärze war einem dunklen, unwirklichen Blau gewichen, das am Horizont heller wurde, ins
     Violette überging und bald in leuchtendem Orange erstrahlen würde. In der Ferne erkannte Wells schon die Umrisse der Waterloobrücke,
     deren Formen immer deutlicher aus dem weichenden Dunkel hervortraten und das morgendliche Licht auf sich zogen. Jetzt drang
     auch die anschwellende Symphonie erwachender, zunächst noch unbestimmter Geräusche an sein Ohr. Ein beglücktes Lächeln spielte
     um seine Lippen. Die Stadt erwachte allmählich, und die kleinen, von überall heranschwebenden Geräusche würden sich bald zum
     Lärm des pulsenden Lebens verdichten, anschwellen zu einem unerträglichen Brausen, das sich hoch und höher hob, vielleicht
     als friedliches Bienengesumm in die Weiten des Raums hinausdrang |704| und davon kündete, wie bewohnt der dritte Planet des Sonnensystems war.
    Und obwohl Wells, während er sich der Brücke näherte, nur das sehen konnte, was vor ihm lag, hatte er irgendwie das Gefühl,
     Teil einer großen Theateraufführung zu sein, die, weil ausnahmslos alle Bewohner der Hauptstadt mitmachten, für jeden und
     niemanden gegeben wurde. Mit Ausnahme, dachte er, der aufmerksamen Marsbewohner, die das menschliche Tun beobachteten wie
     ein Mensch mit einem Mikroskop das Gewimmel von Lebewesen in einem Wassertropfen. Und das war es tatsächlich, denn während
     er in Gedanken versunken den Strand entlangwanderte, durchpflügten Dutzende von Lastkähnen das immer rötlicher leuchtende
     Wasser der Themse in traumhafter Lautlosigkeit von Chelsea Reach in Richtung Billingsgate, in dessen Hafen ein Heer von Männern
     den Fisch an Land brachte und in Kisten auf die Kaimauer wuchtete, und in den Vierteln der Reichen, die nach frischem Brot
     aus den Backöfen der Bäckereien und den knospenden Blüten in den Körben der Blumenfrauen dufteten, strebten die Menschen aus
     ihren luxuriösen Häusern in ihre nicht minder luxuriösen Büros, überquerten die Straßen der Innenstadt, die sich immer mehr
     mit Kutschen, Zweispännern und allen nur denkbaren Vehikeln auf Rädern und die Luft mit Rattern und Klappern füllten, und
     hoch oben quoll der Qualm aus den Fabrikschornsteinen und vermischte sich mit dem Nebel, der vom Fluss aufstieg, und bildete
     ein Schweißtuch aus diesigem, klebrigem Dunst, und ein Heer von Karren, teils von Maultieren gezogen, teils von Menschen geschoben
     und von Früchten, Gemüse, Aalen und Tintenfischen |705| überquellend, nahm unter einem Gewirr von Rufen und gellenden Pfiffen Aufstellung auf dem Markt von Covent Garden, während
     Inspektor Garrett, der nicht einmal zu Ende hatte frühstücken können, in der Sloane Street von Mr.   Ferguson erwartet wurde, der ihm zitternd vor Furcht mitteilte, in der Nacht sei auf ihn geschossen worden, und ihm sogar
     das Loch in seinem Hut zeigte, durch das er den Wurm seines dicken Daumens hervorschauen ließ, und Garrett untersuchte mit
     nachdenklichem Blick die Umgebung, kroch sogar zwischen die Sträucher des Gartens, der Fergusons Haus umgab, und konnte ein
     warmes Lächeln nicht unterdrücken, als er die anrührenden Umrisse eines Kiwis erkannte, die jemand in den Sand des Gartenwegs
     gemalt hatte und die er, nachdem er sich mit einem Blick vergewissert hatte, dass niemand hinsah, rasch mit dem Fuß verwischte
     und dann schulterzuckend wieder auf die Straße trat, wo er Ferguson mit falscher Zerknirschung gestand, keinerlei Spuren gefunden
     zu haben, derweil zur selben Zeit in einem Pensionszimmer in Bethnal Green Tom Peachey, den man bis zu seinem Ertrinken in
     der Themse als Tom Blunt gekannt hatte, die über alles geliebte Frau in seinen Armen hielt und Claire Haggerty in diesen starken
     Armen dahinschmolz und sich mit ihm freute, der Zukunft des trostlosen Jahres 2000 entronnen zu sein, in dem im selben Augenblick
     der tapfere Hauptmann Derek Shackleton mit unangenehm krächzender Stimme versicherte, wenn dieser Krieg ein Gutes gehabt habe,
     dann, dass er wie kein anderer Krieg zuvor der Menschheit Zusammenhalt gegeben hatte, und Gilliam Murray sorgenvoll den Kopf
    
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