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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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würde, wenn er feststellte, dass
     sein Sohn sich umgebracht hatte, ohne Rücksprache mit ihm zu halten.
    Andrew öffnete das Schränkchen, in dem die Munition aufbewahrt wurde, und lud sechs Patronen in die Trommel. Er nahm zwar
     an, dass er mehr als eine kaum brauchen würde, aber man wusste ja nie. Schließlich brachte er sich zum ersten Mal um. Er wickelte
     den Revolver in ein |14| Tuch und steckte ihn in die Tasche seines Gehrocks, als handle es sich um ein Stück Obst, das er auf einem Spaziergang zu
     verzehren gedachte. Dann fuhr er mit seinem ungehorsamen Tun fort, indem er die Vitrine offen stehen ließ. Wenn er diesen
     Mut früher aufgebracht hätte, dachte er, wenn er sich getraut hätte, seinem Vater im rechten Moment die Stirn zu bieten, würde
     sie jetzt noch leben. Als er es endlich getan hatte, war es zu spät gewesen. Acht lange Jahre bezahlte er schon für diese
     Verspätung. Acht lange Jahre, in denen der Schmerz wie giftiger Efeu in ihm wucherte, seine Organe mit feuchten Fingern umklammert
     hielt und seine Seele langsam absterben ließ. Trotz der Bemühungen seines Cousins Charles, trotz der Ablenkung durch andere
     Körper ließ sich der Schmerz um Maries Tod nicht begraben. In dieser Nacht jedoch würde alles enden. Sechsundzwanzig Jahre
     war ein hübsches Alter zum Sterben, dachte er, und betastete zufrieden die Wölbung seiner Jackentasche. Die Waffe hatte er
     schon. Jetzt brauchte er nur noch den passenden Ort für das Zeremoniell. Und es gab nur einen Ort, der dafür in Frage kam.
    Schwer und tröstlich wie ein Talisman lag der Revolver in seiner Tasche, als er die herrschaftliche Treppe in Harrington Mansion,
     dem im vornehmen Kensington Gore gelegenen Familienwohnsitz am Westeingang des Hyde Park, hinunterschritt. Entschlossen, die
     Wände, die fast drei Jahrzehnte lang sein Zuhause gewesen waren, keines Blicks mehr zu würdigen, konnte er dann doch dem krankhaften
     Trieb nicht widerstehen, vor dem großen Porträt in der Empfangshalle einen Moment innezuhalten. Aus vergoldetem Rahmen schaute
     ihn sein Vater missbilligend an. In seine alte Infanterieuniform gezwängt, in der er als junger |15| Mann im Krimkrieg gekämpft hatte, bis ihm ein russisches Bajonett einen Beinmuskel so zerfetzte, dass er fortan lahmte und
     beim Gehen beunruhigend schwankte, warf Sir William Harrington einen höhnisch tadelnden Blick auf die Welt, als sei die Schöpfung
     für ihn ein ganz und gar missratenes Werk, das er längst verlorengegeben hatte. Wer hatte befohlen, über die Schlacht von
     Sewastopol dieses Leichentuch eines höchst unangebrachten Nebels zu legen, in dem man nicht die Spitze seines Bajonetts mehr
     sehen konnte? Wer hatte entschieden, dass es eine Frau sein musste, der man die Führung des Englischen Empire anvertraute?
     War der Osten wirklich der geeignetste Ort, um die Sonne aufgehen zu lassen? Andrew hatte seinen Vater nie anders als mit
     dieser harschen Feindseligkeit im Blick gekannt, sodass er nicht wusste, ob er schon damit geboren war oder sich erst bei
     den grimmigen Osmanen auf der Krim damit angesteckt hatte; jedenfalls war sie nicht wie eine vorübergehende Pustel wieder
     aus seinem Gesicht verschwunden, obwohl man das Schicksal, das sich nach dem Krieg vor den Stiefeln dieses Soldaten ohne Zukunft
     aufgetan hatte, nicht anders als wohlwollend bezeichnen konnte. Was bedeutete es schon, dass er seinen Weg mit dem Handstock
     gehen musste, wenn ihn dieser Weg da hingeführt hatte, wohin er ihn geführt hatte! Denn ohne dass er seine Seele dem Teufel
     hatte verkaufen müssen, war der Mann mit dem dichten Schnauzbart und dem adretten, ja, peniblen Aussehen, welches die Malerleinwand
     zeigte, gleichsam über Nacht zu einem der reichsten Herren Londons geworden. Nichts von all dem, was er heute besaß, hätte
     er sich träumen lassen, als er noch mit aufgepflanztem Bajonett durch jenen fernen Krieg gestolpert |16| war. Auf welche Weise er allerdings seinen Reichtum angehäuft hatte, das gehörte zu den bestgehüteten Familiengeheimnissen
     und war für Andrew daher ein absolutes Mysterium.
     
    Jetzt nähert sich der Augenblick, in dem der junge Mann die lästige Entscheidung treffen muss, welchen Hut er aufsetzen und
     welchen Mantel er anziehen will von all den Hüten und Mänteln, mit denen der Kleiderschrank in der Empfangshalle vollgestopft
     ist, denn selbst für den Tod muss man ja präsentabel sein. Diese Szene kann, kennt man Andrew, mehrere
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