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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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fielen für ihn nicht ins Gewicht, und Mr.   McCarthy war entzückt gewesen über die Laune eines wohlhabenden und offensichtlich perversen Herrn, dieses Loch auf unabsehbare
     Zeit zu mieten, da nach dem, was in dessen vier Wänden vorgefallen war, kaum ein Mensch die Nerven haben würde, sich darin
     zur Ruhe zu legen. Andrew begriff, dass er tief in seinem Herzen immer gewusst hatte, dass er zurückkehren würde; dass das,
     was er vorhatte, an keinem anderen Ort stattfinden konnte.
    Er schloss die Tür auf und ließ seinen Blick wehmütig durch das Zimmerchen schweifen. Es war kaum mehr als eine verdreckte
     Rumpelkammer mit abblätterndem Putz an den Wänden, vollgestellt mit einem Sammelsurium sogenannter Möbel, zu denen ein wackliges
     Bett gehörte, ein blinder Spiegel, eine schlichte hölzerne Kommode, ein rauchgeschwärzter Kamin und zwei Stühle, die zusammenzubrechen
     drohten, wenn sich nur eine Fliege darauf setzte. Er fragte sich wieder, wie man hier leben konnte. Andererseits: War er hier
     nicht glücklicher gewesen als in den luxuriösen Mauern von Harrington Mansion? Falls |30| sich das Paradies, wie er einmal gelesen hatte, für jeden Menschen an einem anderen Ort befand, so wäre seines zweifellos
     hier, an diesem Ort, zu dem ihn eine Landkarte geführt hatte, die nicht aus Flüssen und Tälern bestand, sondern aus Küssen
     und zärtlichen Liebkosungen.
    Eine Liebkosung war es auch, jedoch eine eisige in seinem Nacken, die ihm deutlich machte, dass niemand sich die Mühe gemacht
     hatte, das zerbrochene Fenster zu reparieren, das sich links von der Tür befand. Wozu auch. McCarthy schien zu jener Sorte
     Menschen zu gehören, die sich an die Maxime hielten, nicht mehr zu arbeiten als unbedingt nötig, und wenn Andrew ihn wegen
     des zerbrochenen Fensters zur Rede stellte, würde er sich damit herausreden, dass er geglaubt habe, sein Wunsch, alles so
     zu belassen, wie es war, habe sich auch auf das kaputte Fenster bezogen. Andrew seufzte. Er hatte nichts zur Hand, um das
     Loch abzudichten. Nun, dann würde er seinem Leben eben in Hut und Mantel ein Ende setzen. Er ließ sich vorsichtig auf einem
     der Stühle nieder, nahm die eingewickelte Waffe aus der Rocktasche und schlug langsam das Tuch auseinander, als zelebriere
     er einen weihevollen Akt. Der Colt glänzte matt im Mondschein, der nur mit Mühe durch das verdreckte Fensterchen drang.
    Andrews Hand strich zärtlich über die Waffe, als wäre sie ein in seinem Schoß zusammengerolltes Kätzchen, während er sich
     noch einmal der Erinnerung an das bezaubernde Lächeln seiner Marie hingab. Andrew war immer wieder überrascht, dass in seinem
     Gedächtnis die frischen Rosen der ersten Tage nach wie vor in ihrer ganzen Pracht blühten. Alles war noch so außerordentlich
     lebendig, als hätte sich nie dieser Abgrund von acht Jahren dazwischen |31| aufgetan. Manchmal kamen ihm seine Erinnerungen sogar noch herrlicher vor als das wirkliche Geschehen. Welche seltsame Alchemie
     sorgte dafür, dass die Nachbildungen glanzvoller erschienen als das Original? Die Antwort war klar: Der Lauf der Zeit formte
     die überschäumende Gegenwart zu jenem abgeschlossenen und unveränderlichen Bild namens Vergangenheit, das der Mensch wie blind
     mit willkürlichen Pinselstrichen zu malen pflegte, welche ihre volle Wirkung erst entfalteten, wenn man genügend weit zurücktrat
     und das Gemälde in seiner Ganzheit betrachtete.

|32| II
    Als sich ihre Blicke zum ersten Mal begegneten, war Marie gar nicht anwesend. Andrew hatte sich in sie verliebt, ohne sie
     leibhaftig vor sich zu haben, und das war ihm ebenso romantisch wie paradox erschienen. Passiert war es im Haus seines Onkels
     in Queen’s Gate, gegenüber dem Naturkundemuseum, das Andrew sozusagen als sein zweites Zuhause betrachtete. Sein Cousin war
     genauso alt wie er, sie waren praktisch zusammen aufgewachsen, was so weit ging, dass die Kinderfrauen manchmal nicht mehr
     wussten, welcher der Jungen der Sohn ihres Herrn war. Wie man leicht erraten kann, hatte ihre gesellschaftliche Stellung sie
     aller Nöte enthoben und ihnen nur die Schokoladenseite des Lebens gezeigt, welches sie für eine niemals endende Party hielten,
     auf der alles erlaubt war. So wie sie als Kinder ihre Spielzeuge getauscht hatten, tauschten sie als Heranwachsende ihre Eroberungen,
     um dann, neugierig, wie weit sie es mit der Straflosigkeit, die ihnen offenbar zustand, treiben konnten, gemeinsam immer neue
     Strategien
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