Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
zu ersinnen, um die Grenzen des Erlaubten auszureizen. Ihr dreistes Tun und die mehr oder weniger abartigen Streiche
     waren so gut aufeinander abgestimmt, dass es einige Jahre hindurch schwerfiel, die beiden anders als eine einzige Person wahrzunehmen,
     was sowohl an ihrer gleichmachenden |33| zwillingshaften Komplizenschaft lag als auch an ihrer hochmütigen Art, dem Leben zu begegnen, und sogar an der äußerlichen
     Ähnlichkeit: Beide Jungen waren schlank und sehnig wie Läufer auf einem Schachbrett und besaßen die zarte Schönheit von Erzengeln,
     welche sie vor Zurückweisungen, besonders seitens der Damenwelt, bewahrte, was während ihrer Zeit in Cambridge deutlich wurde,
     wo sie einen Eroberungsrekord aufstellten, der bis heute von niemandem übertroffen wurde. Abgerundet wurde jene beunruhigende
     Gleichartigkeit durch die Tatsache, dass sie dieselben Schneider und Hutmacher frequentierten. Es war eine Mimesis, die immer
     fortzudauern schien, bis diese wahnsinnige zweiköpfige Kreatur, die sie bildeten, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, als
     hätte der Schöpfer seinen Mangel an Kreativität beheben wollen, in zwei Hälften zerbrach, wie sie unterschiedlicher nicht
     sein konnten: Andrew wurde zu einem ernsten und schweigsamen jungen Mann, während Charles den Leichtsinn seiner jungen Jahre
     weiterhin zu vervollkommnen suchte. Ihre auf gleichem Blut begründete Freundschaft wurde dadurch jedoch nicht zerstört. Durch
     jene jähe Wesensveränderung wurden sie nicht entzweit, sondern ergänzten sich. Charles’ unbekümmerte Leichtlebigkeit fand
     ihren Gegenpol in der eleganten Schwermut seines Cousins, den die willkürliche Art, das Leben zu genießen, nicht mehr zufriedenzustellen
     schien. Spöttisch beobachtete Charles, wie Andrew seinen Tagen einen neuen Sinn zu geben versuchte, wie er, mit stiller Enttäuschung
     kämpfend, auf eine Erleuchtung wartete, die nicht kam. Andrew wiederum sah amüsiert zu, wie sein Cousin im grellen Kostüm
     des oberflächlichen Schönlings durchs Leben ging, während hinter manchen seiner |34| Gesten und Meinungsäußerungen ein Geist aufblitzte, der ebenso ernüchtert war wie sein eigener, wenngleich es offenbar nicht
     zu seinen Plänen gehörte, vom süßen Leben abzulassen. Nein, Charles lebte drauflos, als fehlten ihm feinere Sinne, um die
     Welt zu genießen, während Andrew tagelang in einem Winkel sitzen und einer Rose in seiner Hand beim Welken zuschauen konnte.
    In dem August, in dem das alles passierte, waren die beiden achtzehn Jahre alt geworden, und obgleich keiner von ihnen Anstalten
     machte, erwachsen zu werden, ahnten sie doch beide, dass das müßiggängerische Leben nicht mehr lange so weitergehen konnte,
     dass die Eltern das fruchtlose Faulenzerdasein ihrer Söhne nicht mehr lange mit ansehen und ihnen irgendeine Alibitätigkeit
     in einem der Familienunternehmen zuweisen würden. Im Moment war es jedoch ganz vergnüglich auszuprobieren, wie weit man den
     Bogen noch spannen konnte. Charles hatte schon angefangen, an einigen Tagen der Woche ins Büro zu gehen und kleinere Aufgaben
     zu erledigen, doch Andrew wollte lieber warten, bis das Gefühl von Langeweile so stark würde, dass er eine Anstellung in einem
     der familiären Geschäfte eher als Erleichterung denn als Strafe empfände. Die Wünsche des Vaters wurden in dieser Hinsicht
     bereits von Andrews älterem Bruder Anthony befriedigt, sodass der erlauchte Sir William Harrington es sich leisten konnte,
     seinen Zweitgeborenen noch ein paar Jahre als schwarzes Schaf auf der Weide zu lassen, solange er ihm nicht aus dem Blickfeld
     geriet. Doch ebendas hatte Andrew getan. Er hatte sich den Blicken seines Vaters entzogen. Und jetzt plante er, sich noch
     mehr zu entziehen, bis er ganz verschwunden und jede Möglichkeit zur Rettung ausgeschlossen wäre.
    |35| Wir wollen uns jedoch nicht von Dramatik mitreißen lassen, sondern mit unserer Geschichte fortfahren. An jenem Tag war Andrew
     zu den Winslows gegangen, weil er und sein Cousin Charles einen Sonntagnachmittagsausflug mit den bezaubernden Keller-Zwillingen
     planten, die sie wie üblich zum Serpentine-See auszuführen gedachten, auf dessen blumenübersäten Uferwiesen sie ihre romantischen
     Hinterhalte auszulegen pflegten. Charles schlief jedoch noch, und der Hausdiener ließ Andrew in der Bibliothek warten. Diesem
     machte es nichts aus, sich dort die Zeit zu vertreiben, bis sein Cousin den Weg in die Vertikalität gefunden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher