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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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hatte, denn inmitten
     all der Bücher, die den lichtdurchfluteten Raum mit einem ganz eigenen schweren Geruch erfüllten, fühlte er sich ausgesprochen
     wohl. Sein Vater rühmte sich, eine ansehnliche Bibliothek im Haus zu beherbergen, doch im Hause seines Cousins gab es nicht
     nur dunkle Bücher über Politik und ähnlich langweilige Themen. Dort konnte man klassische Werke und sogar Abenteuerromane
     finden, von Verne bis Salgari, aber auch, und das belustigte Andrew besonders, einzelne Exemplare einer befremdlichen, einigermaßen
     exotischen, von vielen als frivol getadelten Literatur. Es handelte sich um Romane, in denen die Autoren ihre Phantasie schweifen
     ließen, unbekümmert die Lächerlichkeit streiften oder sich ihr sogar offen ergaben. Wie jeder empfindsame Leser genoss Charles
     zwar die Lektüre von Homers
Odyssee
oder
Ilias
, wahres Lesevergnügen hingegen empfand er erst, wenn er sich in die aberwitzigen Seiten eines Romans wie
Der Froschmäusekrieg und seine Folgen
vertiefte, in dem der blinde Dichter sich selbst parodiert und in epischer Breite von einer Schlacht zwischen Fröschen und
     Mäusen erzählt. |36| Andrew erinnerte sich an einige Bücher dieser Art, die sein Cousin ihm ausgeliehen hatte; Bücher wie
Wahrhafte Erzählungen
, zum Beispiel, von Lucian von Samosata, eine Sammlung fabelhafter Reisen in einem fliegenden Schiff, mit dem der Held sogar
     auf der Sonne landen konnte, und das Innere eines gigantischen Wals durchfuhr. Oder
Der Mann im Mond
von Francis Godwin, der erste Roman, der von einer interplanetarischen Reise erzählte und in dem ein Spanier namens Domingo
     González mit einer von Wildgänsen gezogenen Maschine zum Mond flog. Für Andrew waren derartige Phantasiegeschichten nicht
     mehr als Feuerwerksraketen, die keinerlei Spuren am Himmel hinterließen, aber er verstand, oder glaubte zu verstehen, warum
     sie seinen Cousin so bewegten. Diese Art von Literatur, die von den meisten abgelehnt wurde, war das Lot, das Charles’ Seele
     im Gleichgewicht hielt, das Gegengewicht, welches ihn davor bewahrte, dem Ernst oder der Melancholie zu verfallen, wie es
     ihm passiert war, der sich dieser leichten, sorglosen Art, das Leben zu sehen, nicht hatte anschließen können, dem alles schmerzlich
     schwer erschien, durchtränkt von dieser absurden Feierlichkeit, mit der die Vergänglichkeit des Lebens unfehlbar jeden noch
     so unbedeutenden Akt versah.
    An jenem Nachmittag jedoch hatte Andrew keine Zeit, irgendein Buch in die Hand zu nehmen. Er kam nicht einmal dazu, sich der
     Bücherwand zu nähern, da das anbetungswürdigste Mädchen, das er je zu Gesicht bekommen hatte, seinen Schritt mitten im Zimmer
     innehalten ließ. Verwirrt starrte er auf das Bild, während die Zeit schwerer zu werden, einen Moment lang stehenzubleiben
     schien, bis er sich dem Porträt schließlich langsam zu nähern wagte, |37| um es aus der Nähe zu betrachten. Die Frau trug ein schwarzes Samthütchen und ein blumengemustertes Tuch um den Hals. Sie
     entsprach vielleicht nicht dem universalen Schönheitsideal, wie Andrew zugeben musste, denn für ihr Gesicht war die Nase zu
     groß, die Augen standen zu nah beieinander, und das rötliche Haar machte einen etwas zerzausten Eindruck, aber dennoch besaß
     diese Unbekannte einen so unbestimmten wie nicht zu leugnenden Charme. Er wusste nicht, was genau ihn an ihr so verzauberte.
     Vielleicht war es der Gegensatz zwischen ihrem zerbrechlichen Aussehen und der Kraft ihres Blickes; eines Blickes, den er
     bei keiner seiner Eroberungen je gefunden hatte. Es war ein wilder und entschlossener Blick, in dem zugleich eine zarte Unschuld
     glomm, als habe diese junge Frau zwar Tag für Tag die düsterste Seite der Welt vor Augen, bewahre sich jedoch des Nachts,
     allein im Dunkel ihres Zimmers, den Glauben daran, dass dies nur ein ärgerliches Zerrbild war, eine Wahnvorstellung, die sich
     bald auflösen und einer freundlicheren Wirklichkeit weichen würde. Es war der Blick eines Menschen, der sich nach etwas sehnt
     und nicht wahrhaben will, dass er es niemals bekommen wird, da die Hoffnung alles ist, was ihm bleibt.
    «Ein bezauberndes Geschöpf, nicht wahr?», sagte Charles hinter seinem Rücken.
    Andrew fuhr herum. Er war so in die Betrachtung des Bildes versunken gewesen, dass er ihn nicht hatte hereinkommen hören.
     Er nickte nur, während sein Cousin zu dem Wägelchen mit den Getränken ging. Mehr fiel ihm nicht ein, um auszudrücken, was
     das Bild in
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