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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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ihm hervorgerufen hatte; diesen Wunsch, das Mädchen zu beschützen, vermischt mit einem Gefühl der Bewunderung,
     ähnlich dem, |38| dachte er leicht beschämt angesichts dieses unangebrachten Vergleichs, das er beim Anblick von Katzen empfand.
    «Ich habe es meinem Vater zum Geburtstag geschenkt», erklärte Charles, während er Brandy in zwei Gläser goss. «Es hängt da
     erst seit ein paar Tagen.»
    «Wer ist das Mädchen?», fragte Andrew. «Ich habe sie weder auf den Partys von Lady Holland noch von Lord Broughton je gesehen.»
    «Auf deren Partys?», lachte Charles. «Ich glaube allmählich, dass der Maler tatsächlich gewisse Fähigkeiten hat. Auch dich
     hat er hereingelegt.»
    «Was willst du damit sagen?», fragte Andrew und nahm das Glas, das sein Cousin ihm reichte.
    «Glaubst du, ich habe meinem Vater das Bild wegen seiner künstlerischen Qualitäten geschenkt? Meinst du wirklich, es könnte
     als Gemälde vor meinen Augen bestehen?» Charles nahm ihn am Arm und nötigte ihn, ein paar Schritte näher an das Bild heranzutreten.
     «Schau genau hin. Beachte die Pinselführung: Dahinter steht nicht das geringste Talent. Der Maler ist nicht mehr als ein mutwilliger
     Degas-Schüler. Wo der Franzose lieblich ist, ist er schreiend schroff.»
    Andrew verstand nicht genug von Malerei, um mit seinem Cousin zu diskutieren, und alles, was ihn interessierte, war das Modell.
     Er wollte wissen, wer sie war, und so nickte er nur ergeben und gab damit zu verstehen, dass er sich Charles’ Urteil anschloss:
     Der Maler wäre besser beraten, Fahrräder zu reparieren. Charles lächelte über die Art, wie sein Cousin einer Diskussion über
     Malerei ausgewichen war, die es ihm selbst erlaubt hätte, mit seinem Kunstverständnis zu brillieren. So sagte er:
    |39| «Ich habe es ihm aus einem anderen Grund geschenkt, lieber Cousin.»
    Er leerte sein Glas in einem langen Zug, betrachtete das Bild noch einige Sekunden und nickte zufrieden vor sich hin.
    «Und was ist das für ein Grund, Charles?», fragte Andrew schließlich ungeduldig.
    «Das geheime Vergnügen, welches mir das Wissen bereitet, dass mein Vater, der den Pöbel hasst, als wären diese Menschen minderwertige
     Wesen, in seiner Bibliothek das Porträt einer gewöhnlichen Prostituierten hängen hat.»
    Seine Worten brachten Andrew aus der Fassung.
    «Eine Prostituierte?», stammelte er.
    «Ja», antwortete Charles mit einem zufriedenen Lächeln, das sich über das ganze Gesicht ausbreitete, «aber keine von den Edelhuren
     aus den Bordells vom Russell Square, nicht einmal eine von denen, die sich im Park an der Vincent Street herumtreiben, sondern
     eine dreckige Nutte aus Whitechapel, in deren stinkenden Schoß die ärmsten Schlucker für drei erbärmliche Pennys ihr ganzes
     Elend entleeren.»
    Andrew brauchte einen Schluck Brandy, um die Worte seines Cousins zu verdauen. Dessen Enthüllung hatte ihn überrascht, das
     war nicht zu leugnen, wie sie jeden anderen überrascht hätte, der das Bild sähe, aber sie hatte ihn auch eine absurde Enttäuschung
     spüren lassen. Er heftete die Augen wieder auf das Bild und versuchte den Grund für sein ungutes Gefühl zu verstehen. Dieses
     liebliche Geschöpf war eine gewöhnliche Hure. Jetzt begriff er die Verschmelzung von Feuer und Härte, die in ihren Augen stand
     und die der Maler so gut herauszuarbeiten verstanden hatte. |40| Andrew musste jedoch zugeben, dass seine Desillusion einen viel selbstsüchtigeren Grund hatte: Die junge Frau gehörte nicht
     zu seiner Welt, und das bedeutete, dass er sie nie würde kennenlernen können.
    «Bruce Driscoll hat mir den Kauf empfohlen», erklärte Charles, der die Gläser nachfüllte. «Du erinnerst dich doch an Bruce?»
    Andrew nickte ohne allzu große Begeisterung. Bruce war ein Freund seines Cousins, den Geld und Langeweile zum Kunstsammler
     gemacht hatten; ein eingebildeter Müßiggänger, der keine Gelegenheit ausließ, sie mit seinen Kenntnissen der Malerei zu belästigen.
    «Du weißt ja, er stöbert gern unter den Teppichen», sagte sein Cousin und reichte ihm das gefüllte Glas Brandy. «Als ich ihn
     das letzte Mal traf, erzählte er mir von einem Maler, dessen Werk er bei einem seiner Bummel über die Flohmärkte entdeckt
     hatte. Ein gewisser Walter Sickert, Gründer der Neuen Englischen Kunstschule. Er hatte sein Atelier in der Cleveland Street,
     und er malte die Nutten aus dem East End, als wären sie vornehme Damen. Als ich ihm einen Besuch abstattete,
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