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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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er, dass der junge
     Harrington es nicht verwunden hatte; dass all die wahnsinnigen Spelunken- und Bordellbesuche, zu denen Cousin Charles seinen
     Herrn angestiftet hatte und bei denen er, Harold, auf dem Kutschbock hatte ausharren müssen, bis die Kälte seine Knochen zermürbte,
     nichts bewirkt hatten, es nicht vermocht hatten, das Entsetzen in Andrews Augen auszulöschen. Und in dieser |27| Nacht schien er da hingekommen zu sein, die Waffen zu strecken und sich einem Feind zu ergeben, der sich als übermächtig erwiesen
     hatte. War die Ausbuchtung in der Manteltasche etwa keine Waffe gewesen? Aber was konnte er tun? Umkehren und ihn an seinem
     Vorhaben hindern? Darf ein Diener das Schicksal seines Herrn beeinflussen? Er schüttelte den Kopf. Vielleicht übertrieb er
     ja auch, dachte er, und der junge Herr wollte bloß die Nacht in jenem gespenstischen Zimmer verbringen, hatte die Waffe zu
     seiner Sicherheit eingesteckt.
    Er unterbrach sein Grübeln, als er eine Kutsche aus dem Nebel auftauchen sah, die ihm bekannt vorkam. Es war die Kutsche der
     Winslows, und wenn seine Augen ihm keinen Streich spielten, war die Gestalt, die da dick vermummt auf dem Bock saß, Edward
     Rush, einer von Winslows Kutschern. Dieser hatte anscheinend auch Harold erkannt, denn er verlangsamte unwillkürlich seine
     Fahrt ein wenig. Harold grüßte ihn mit einem Kopfnicken, bevor er seinen Blick auf den Fahrgast richtete. Einen Wimpernschlag
     lang schauten sich er und der junge Charles Winslow in die Augen.
    «Schneller, Edward!», befahl Charles Winslow seinem Kutscher und pochte, wie ein Specht, zweimal mit der Spitze seines Handstocks
     gegen das Wagendach.
    Erleichtert stellte Harold fest, dass die Kutsche, die gerade wieder im Nebel verschwand, in Richtung Miller’s Court fuhr.
     Sein Eingreifen war also überflüssig. Er hoffte nur, dass der junge Winslow noch rechtzeitig kam. Er hätte zwar gern zugeschaut,
     wie das Ganze zu Ende ging; aber er hatte einen Auftrag, und obwohl es ihm vorkam, als sei dieser ihm von einem Toten gegeben
     worden, ließ er die |28| Peitsche knallen und sah zu, dass er schnellstens aus diesem verfluchten Viertel herauskam, in dem ein Leben – es tut mir
     leid, dass ich mich wiederholen muss, aber Harold dachte es nun einmal – keine drei Pennys wert war. Man muss zugeben, es
     ist ein Satz, der recht treffend die Eigenheit dieses Viertels beschreibt; und vielleicht sollten wir von einem Kutscher auch
     keine komplexere Einschätzung erwarten. Aber der Kutscher Harold Barker, dessen Lebensgeschichte zu erzählen durchaus lohnenswert
     wäre, wie es, genau besehen, jedes Menschenleben ist, spielt in unserer Geschichte keine große Rolle mehr. Vielleicht schreibt
     ein anderer seine Geschichte, dann findet er gewiss reichlich Stoff, um sie so mit Emotionen aufzuladen, wie sie eine Erzählung
     nun einmal braucht. Ich denke da an den Augenblick, als er Rebekka, seine Frau, kennenlernt; oder an den absolut phantastischen
     Vorfall mit dem Frettchen und der Harke. Aber darauf richten wir im Moment nicht unser Augenmerk.
    Verlassen wir also Harold, von dem ich nicht einmal mit Gewissheit sagen kann, ob er überhaupt wieder auftaucht, in irgendeinem
     Nebenstrang dieser Geschichte vielleicht, in der noch so viele andere Personen zu Hause sind; man kann sich ja nicht jedes
     Gesicht merken. Wenden wir uns daher wieder Andrew zu, der in diesem Augenblick das Tor von Miller’s Court durchschreitet
     und auf dem lehmglitschigen Kopfsteinpflaster weitergeht, angestrengt nach Zimmer dreizehn Ausschau hält und in seiner Rocktasche
     nach dem Schlüssel tastet. Nach einigem Suchen in der Finsternis fand er die Zimmernummer und blieb davor stehen, mit einer
     Bewegung noch, die ein zufälliger Beobachter für eine absurde Verbeugung gehalten hätte. Für |29| Andrew war das Zimmer weit mehr als nur eine elende Absteige für solche, die nicht einmal ein Plätzchen hatten, an dem sie
     sich zum Sterben hinlegen konnten. Seit der schicksalhaften Nacht war er zwar nicht mehr dort gewesen, zahlte jedoch weiter
     die Miete und ließ es so, wie er es in Erinnerung hatte. Während der vergangenen acht Jahre hatte er jeden Monat einen Diener
     losgeschickt, die Miete zu bezahlen, damit kein anderer sich in dem Zimmer einquartieren konnte, in dem er, falls er sich
     einmal entschloss, dorthin zurückzukehren, nichts anderes vorzufinden wünschte als jene Spuren, die Marie hinterlassen hatte.
     Die paar Pennys Miete
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