Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
leeren Platz in ihrem Bett auszufüllen.
    Er hörte auf, den Mond zu betrachten, als er Harold, den |19| Kutscher, wahrnahm, der wie befohlen am Fuß der Treppe mit einer der Kutschen vorgefahren war. Als er seinen Herrn die Treppe
     herunterkommen sah, riss der Kutscher den Wagenschlag auf. Die Agilität, die der alte Harold an den Tag legte, amüsierte Andrew
     jedes Mal, da er sie bei einem Mann um die sechzig für einigermaßen unpassend hielt. Aber es war nicht zu übersehen, dass
     sich der Kutscher in Form hielt.
    «Miller’s Court», befahl der junge Mann.
    Harold machte ein überraschtes Gesicht.
    «Aber, Sir, da war doch   …»
    «Haben wir ein Problem, Harold?», unterbrach ihn Andrew.
    Der Kutscher starrte ihn mit lächerlich offenstehendem Mund an, dann fasste er sich.
    «Nein, Sir.»
    Andrew nickte zum Zeichen, dass das Gespräch für ihn damit beendet war. Er stieg in die Kutsche und machte es sich auf dem
     mit rotem Samt bezogenen Sitz bequem. Als er im Fenster der Wagentür sein sich spiegelndes Gesicht erblickte, entfuhr ihm
     ein wehmütiger Seufzer. Dieses verhärmte Antlitz war seines? Es sah aus wie das Gesicht eines Menschen, aus dem das Leben
     entwichen ist, ohne dass er es gemerkt hat; wie Wolle, die aus einem Riss im Kissenbezug quillt, was in gewisser Weise ja
     auch stimmte. Er besaß immer noch das gleichmäßige, hübsche Gesicht, mit dem auf die Welt zu kommen er das Privileg gehabt
     hatte, doch jetzt wirkte es auf ihn wie ein leeres Stück Rinde oder Borke, wie etwas aus Asche Gemeißeltes ohne feste Form.
     Anscheinend hatte das Leiden seiner Seele auch Verwüstungen am Äußeren angerichtet, denn in dem alt |20| aussehenden jungen Mann mit den eingefallenen Wangen, dem erloschenen Blick und dem wirren Bart, der sich da im Türfenster
     spiegelte, konnte er sich kaum wiedererkennen. Der Schmerz hatte sein blühendes Leben unterbrochen und ihn zu einer welken,
     glanzlosen Kreatur werden lassen. Als Harold nach Überwindung seines Schreckens auf den Bock kletterte, bewirkte das Schwanken
     der Kutsche, dass Andrew sich von dem Gesicht abwandte, das mit wässriger Farbe auf die Leinwand der Nacht gemalt schien.
     Der letzte Akt der katastrophalen Vorstellung seines Lebens begann jetzt, und er durfte keine Einzelheit davon verpassen.
     Über seinem Kopf hörte er die Peitsche knallen, er streichelte das kalte Objekt in seiner Manteltasche, das sanfte Rütteln
     der Kutsche wiegte ihn.
     
    Das Gefährt bog in Knightsbridge ein und fuhr am üppig wuchernden Hyde Park vorbei. In etwas weniger als einer halben Stunde
     würden sie im East End sein, schätzte Andrew, während er die am Wagenfenster vorüberziehende Hauptstadt betrachtete. Die Fahrt
     fesselte und verwirrte ihn gleichermaßen, da sie ihm sämtliche Gesichter seines geliebten London zeigte, der größten Stadt
     der Welt, sichtbares Haupt eines hungrigen Kraken, dessen Tentakel beinah ein Fünftel der gesamten Erdoberfläche des Planeten
     umfingen und Kanada, Indien, Australien sowie einem Großteil Afrikas mit seiner Umarmung die Luft zum Atmen nahm. In westliche
     Richtung fahrend, ließen sie das gesunde, beinah urwaldgrüne Kensington hinter sich und drangen in das vielgestaltige Großstadtbild
     ein, das sich bis Piccadilly Circus dehnte, jenen Platz, in dessen Mitte die Statue des Gottes Anteros aufgepflanzt ist, des
     Rächers der |21| verschmähten Liebe. Hinter der Fleet Street kamen die Häuschen des städtischen Mittelstands in Sicht, die sich an der St.-Paul’s-Kathedrale
     anzuschmiegen schienen, und nachdem sie die Bank von England und Cornhill Street passiert hatten, schwappte das Elend in die
     Welt; ein Elend, das Andrews Nachbarn aus dem West End nur durch die Karikaturen im
Punch
kannten. Ein Elend, das sogar in der Luft lag, die man kaum atmen konnte ob des unflätigen Gestanks, der von der Themse aufstieg.
    Andrew war diese Strecke seit acht Jahren nicht mehr gefahren, hatte jedoch die ganze Zeit in der Gewissheit gelebt, es früher
     oder später noch einmal zu tun, ein letztes Mal. Wen wundert’s daher, dass ihn, als sie sich Aldgate, dem Tor zu Whitechapel,
     näherten, ein kribbelndes Unbehagen befiel. Während sie durch das Viertel fuhren, wagte er kaum aus dem Fenster zu schauen,
     fühlte dieselbe Scham wie früher. Er hatte nie verhindern können, von einem peinlichen Schamgefühl berührt zu werden, wenn
     er mit dem kalten Blick eines Insektenforschers diese ihm fremde Welt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher