Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
unerträglich lange
     Minuten dauern, die näher zu beschreiben ich für unnötig halte, sodass ich lieber die Gelegenheit ergreife, Sie in dieser
     Geschichte willkommen zu heißen, die soeben begonnen hat, und die ich nach langem Nachdenken in diesem Moment und keinem anderen
     beginnen lassen wollte, so als hätte auch ich mich für einen Anfang unter all den vielen entscheiden müssen, die sich dicht
     an dicht im Schrank meiner Möglichkeiten drängen. Wenn ich diese Geschichte zu Ende erzählt haben werde und Sie immer noch
     dabei sind, werden einige von Ihnen wahrscheinlich denken, dass ich an dem falschen Faden gezogen habe, um das Knäuel abzuwickeln;
     dass es besser gewesen wäre, die Chronologie der Ereignisse einzuhalten und mit der Geschichte von Miss Haggerty zu beginnen.
     Vielleicht; aber es gibt Geschichten, die kann man nicht von ihrem Anfang her erzählen, und möglicherweise ist dies so eine
     Geschichte.
    Vergessen wir also Miss Haggerty für den Moment, vergessen wir sogar, dass ich sie überhaupt erwähnt habe, und wenden wir
     uns wieder Andrew zu, der, bereits in Hut und |17| Mantel und sogar mit dicken Handschuhen passend ausstaffiert, soeben das elterliche Anwesen verlässt. Draußen blieb der junge
     Mann am Abgang der Freitreppe stehen, die zum Garten hinabführte und sich wie eine Marmorbrandung zu seinen Füßen ergoss.
     Dort blieb er stehen und betrachtete die Welt, in der er aufgewachsen war, mit einem Mal sich bewusst werdend, dass er, wenn
     alles gutging, sie nicht mehr wiedersehen würde. Über Harrington Mansion legte sich jetzt die Nacht mit der wehenden Anmut
     eines herabsinkenden Schleiers. Der volle Mond stand in verblichenem Weiß am Himmel, ergoss seinen milchigen Glanz über die
     Ziergärten, die das Haus umgaben, steife Blumenbeete und Hecken und riesige Springbrunnen aus Stein mit pompösen Skulpturen
     von Sirenen, Faunen und der ganzen dazugehörigen unmöglichen Verwandtschaft. Sie standen zu Dutzenden herum, weil es seinem
     Vater an Feingeist mangelte und er seinen Reichtum nicht anders darzustellen wusste als durch die Anhäufung von ebenso teuren
     wie nutzlosen Dingen. Im Falle der Springbrunnen indes war diese haltlose Ansammlung entschuldbar, da sich ihre Klangeigenschaften
     zu einer Art fließendem Wiegenlied zusammenfanden und über ihr einschläferndes Plätschern alles andere vergessen ließen. Weiter
     hinten, jenseits einer ausgedehnten, makellos geschorenen Rasenfläche, erhob sich anmutig wie ein auffliegender Schwan das
     riesige Gewächshaus, in dem seine Mutter den größten Teil ihrer Tage verbrachte und sich von den traumhaften Blumen verzaubern
     ließ, die den aus den Kolonien herbeigebrachten Samenkörnern entsprossen.
    Andrew betrachtete den Mond eine Weile und fragte sich, ob der Mensch eines Tages dahin gelangen könne, |18| wie von Jules Verne oder Cyrano de Bergerac beschrieben. Was würde er vorfinden, wenn es ihm gelänge, auf dieser perlmuttfarbenen
     Oberfläche zu landen? Wobei es egal wäre, ob ihm das mit einem Luftschiff gelang, in einem riesigen, aus einer Kanone abgeschossenen
     Projektil oder indem er sich ein Dutzend mit Morgentau gefüllte Flaschen umband, die ihn beim Verdunsten gen Himmel tragen
     würden, wie es der Held in der Geschichte vom Gascogner Kadetten getan hatte. Beim Dichter Ariost war der Trabant zu einer
     Fundstelle für alte Flaschen geworden, in denen der Verstand jener aufbewahrt wurde, die ihn verloren hatten. Andrew indes
     fühlte sich mehr von Plutarchs Vorschlag angesprochen, der sich den Mond als einen Ort vorstellte, zu dem die reinen Seelen
     wanderten, wenn sie die Welt der Lebenden verlassen hatten. Auch Andrew gefiel die Vorstellung, dass die Toten dort oben in
     richtigen Häusern wohnten, in von einem Heer von Arbeitsengeln errichteten Elfenbeinpalästen oder in weißes Mondgestein gehauenen
     Höhlen friedlich zusammenlebten und darauf warteten, dass die Lebenden den Passierschein des Todes erhielten und dann zu ihnen
     kamen, um das Leben mit ihnen an genau demselben Punkt fortzusetzen, an dem sie es verlassen hatten. Manchmal dachte er, dass
     Marie in so einer Elfenbeingrotte lebte, alles vergessen hatte, was geschehen war, und sich freute, dass der Tod ihr ein besseres
     Dasein bot als das Leben. Die schöne Marie, die auf dem weißschimmernden Mond geduldig darauf wartete, dass er sich endlich
     dazu durchrang, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen und zu ihr zu kommen, um den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher