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Böses Blut

Böses Blut

Titel: Böses Blut
Autoren: Arne Dahl
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    Wortloser Schmerz, dachte er. Jetzt weiß ich, was das ist.
    Lernen fürs Leben, dachte er, und das Gelächter, das sein Galgenhumor ihm eingab, war ebenso wortlos. Lernen für den Tod, dachte er, und statt des Gelächters noch ein stummer Schrei.
    Als der Schmerz zu einem neuen Angriff ausholte, wußte er mit einer Art kristallener Klarheit, daß er sein letztes Lachen gelacht hatte.
    Der Schmerz wurde nicht mehr schlimmer. Mit einem Gefühl, das er noch als eine Mischung von Erleichterung und Entsetzen ausmachen konnte, spürte er, daß die Intensität ihren Höhepunkt erreicht hatte, und begriff, welcher Prozeß jetzt einsetzte.
    Die Talfahrt.
    Die Schmerzkurve stieg nicht mehr, sie flachte ab, und dahinter ahnte er den steilen Absturz, der unerbittlich wie eine Rutschbahn ins Nichts führte. Oder – und er sträubte sich gegen den Gedanken – zu Gott.
    Die Poren seines Körpers waren weit offen, kleine aufgesperrte Münder, die das große Warum brüllten, das er selbst nicht brüllen konnte.
    Und dann kamen die Bilder, er hatte gewußt, daß sie kommen würden. Sie hatten schon eingesetzt, als der Schmerz sich in Dimensionen steigerte, die er sich in seiner wildesten Phantasie nicht hätte ausmalen können. Er war verwundert über diese Möglichkeiten, die all die Jahre in ihm verborgen gelegen hatten.
    Das gab es also.
    Der Mensch trug also ein solches Intensitätspotential in sich.
    Während sein ganzes Wesen in immer neuen Kaskaden explodierte, schien der Schmerz sich von den Fingern, dem Geschlecht, dem Hals zu einem Punkt außerhalb seines Körpers zu verlagern. Es wurde irgendwie ein allgemeiner Schmerz, der sich über den Körper erhob und seine – ja, er mußte dieses Wort denken –, seine Seele okkupierte, und bei alledem versuchte er, klar zu denken. Doch da kamen die Bilder.
    Zuerst hatte er gekämpft, um den Kontakt mit der Außenwelt zu behalten, und die Außenwelt war da nichts anderes als gigantische Flugzeugrümpfe, die vor der kleinen Fensterluke vorüberschossen – dann und wann glitt auch die schweigende Henkersgestalt mit ihren todbringenden Werkzeugen vorüber. Allmählich vermischten sich die brüllenden Flugzeuge mit den Bildern, und jetzt begannen auch die Flugzeuge sich in schreiende Höllengeister zu verwandeln.
    Er hatte keine Kontrolle über die Bilder, wie sie kamen, ihre Reihenfolge, die Struktur. Er sah das unvergeßliche Interieur des Entbindungssaals seines Sohns, aber er selbst war nicht da, sondern hörte sich, während sein Sohn geboren wurde, wie er sich draußen auf der Toilette erbrach. Aber jetzt war er da, und es war schön, geruchsfrei, lautlos. Das Leben ging in Reinheit weiter. Er begrüßte Menschen, die er als große Autoren erkannte. Er glitt durch ahnenreiche Korridore. Er sah, wie er und seine Frau sich liebten, und ihr Gesichtsausdruck war von einer Seligkeit, wie er ihn an ihr noch nie gesehen hatte. Er stand an einem Rednerpult, die Leute applaudierten wild. Neue Korridore, Begegnungen, Sitzungen. Er war im Fernsehen, und bewundernde Blicke flogen ihm zu. Er sah sich mit glühender Leidenschaft schreiben, sah sich Buch auf Buch lesen, Papierstapel auf Papierstapel. Aber wenn die Schmerzpausen kamen und der Flugzeuglärm ihn zurückholte, merkte er, daß er nur sich selbst sah, lesend und schreibend, nie das, was er las und schrieb. Während der kurzen Atempausen fragte er sich, was das bedeutete.
    Jetzt begann die Talfahrt, er spürte es deutlich. Wenn die Stiche kamen, erreichten sie ihn nicht mehr. Er entfloh seinem Quälgeist, er würde siegen. Er war sogar in der Lage, ihn anzuspucken, und die einzige Antwort war ein Knirschen und eine leichte Steigerung des Schmerzes. Aus der Dunkelheit kam ein brüllender Drache, und der wurde zu einem Flugzeug, das einen Schleier über einem Fußballfeld zurückließ, auf dem sein Sohn unruhige Blicke zur Seitenlinie warf. Er winkte ihm zu, aber sein Sohn sah ihn nicht, er winkte wilder, schrie lauter, aber sein Sohn sah nur noch resignierter aus, bis er aus Verwirrung oder aus Protest ein Eigentor schoß. Dann die junge Frau am Bücherregal, die bewundernden Blicke. Sie gehen die große Straße entlang, eifrig ihre generationsübergreifende Liebe demonstrierend. Auf der anderen Seite zwei völlig reglose Gestalten, seine Frau und sein Sohn, und er sieht sie, bleibt stehen und gibt ihr einen langen Kuß. Er joggt, trainiert. Die kleine Nadel dringt in die Kopfhaut ein, wieder und wieder, und endlich ist die
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