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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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durchstreifte, selbst dann nicht, als sich sein Abscheu
     unvermeidlich in Mitgefühl für die armen Seelen wandelte, welche jene Müllhalde von Elendsquartieren bewohnten, auf der die
     Stadt ihren menschlichen Abschaum entsorgte. Das Mitgefühl war immer noch angebracht, wie er jetzt feststellen konnte, denn
     dieses ärmste aller Londoner Stadtviertel schien sich in den vergangenen acht Jahren nicht allzu sehr verändert zu haben.
     Die Armut fährt stets im Windschatten des Reichtums, dachte Andrew, als sie sich durch die lärmigen düsteren, von Ständen
     und Karren verstopften Gassen quälten, durch die wimmelnde Masse bedauernswerter Gestalten, die ihr Leben im finsteren |22| Schatten von Christ Church fristeten. Anfangs hatte er nicht glauben können, dass sich unter dem Flitterglanz eines rauschenden
     London, wie er es kannte, diese Außenstelle der Hölle verbarg, in der die Menschheit sich, mit dem Segen der Königin, bis
     zur Widernatürlichkeit herabwürdigte. Doch die Zeit hatte seine Naivität davongefegt. Inzwischen wunderte er sich nicht mehr,
     dass, während sich das Antlitz Londons mit dem Fortschreiten der Wissenschaft ständig veränderte, die Bewohner der wohlhabenden
     Viertel sich damit vergnügten, das Gebell ihrer Hunde auf den Wachswalzen ihrer Phonographen festzuhalten, in Telephonapparate
     zu sprechen, die von Robertsons elektrischen Lampen beleuchtet wurden, und die Frauen ihre Kinder unter Schwaden von Chloroform
     zur Welt brachten, Whitechapel hinter seiner harten Schale aus Verfall und Verkommenheit von alldem unberührt blieb, am eigenen
     Elend erstickte. Sich dort hineinzubegeben war immer noch so, als würde man seine Hand in ein Wespennest stecken. Hier zeigte
     die Armut ihr verwerflichstes Gesicht. Hier erklang immer dieselbe Schmerzensmelodie. Andrew hörte Schreie aus dem tiefsten
     Dunkel der Gassen, sah Männer sich vor Kneipen prügeln, sah Betrunkene auf der Straße liegen, auf die sich Banden von Kindern
     gestürzt hatten, die ihnen die Schuhe von den Füßen zerrten, begegnete den Blicken von Kerlen mit Ganovengesichtern – an den
     Straßenecken postierte kleine Könige in diesem Parallelreich des Lasters und Verbrechens.
    Von der luxuriösen Karosse angelockt, riefen ihm Prostituierte anzügliche Offerten zu, lüfteten ihre Röcke und hoben ihm Dekolletés
     entgegen. Beim Anblick dieses tristen Schauspiels zog sich Andrews Herz zusammen. Schmutzige |23| und zerlumpte Frauen, von täglicher Mühsal und Plage verhärmt. Schon den Jungen und Hübschen haftete diese Trostlosigkeit
     an, die über dem ganzen Viertel lag. Wieder quälte er sich mit dem Gedanken, dass er einer dieser Unglücklichen ein besseres
     Leben hätte bieten können, als es der Schöpfer ihr zugedacht hatte. Aber er hatte es nicht getan. Seine Qual nahm noch zu,
     als die Kutsche am Ten Bells vorbeifuhr und mit melodischem Knirschen und Knarren in die Crispin Street einbog, der Dorset
     Street entgegen und am Britain Pub vorbei, wo er Marie zum ersten Mal angesprochen hatte. Diese Straße war das Ziel der Fahrt.
     Harold brachte die Kutsche vor dem steinernen Torbogen zum Stehen, der den Eingang zu den Absteigen von Miller’s Court bildete,
     stieg vom Bock und öffnete den Wagenschlag. Mit zitternden Beinen stieg Andrew aus und wurde von Schwindel erfasst, als er
     um sich blickte. Alles war so, wie er es in Erinnerung hatte; sogar der Laden mit den schmierigen Fenstern, den McCarthy,
     der Eigentümer der Apartments, in der Einfahrt zum Innenhof betrieb, war noch da. Nicht ein einziges Detail wies darauf hin,
     dass auch in Whitechapel die Zeit verging und diesen Stadtteil nicht mied, wie die Honoratioren und kirchlichen Würdenträger
     es taten, die in der Stadt zu Besuch weilten.
    «Du kannst nach Hause fahren, Harold», beschied er dem Kutscher, der schweigend neben ihm stand.
    «Wann soll ich Sie wieder abholen, Sir?», fragte der alte Mann.
    Andrew schaute ihn an und wusste nicht, was er antworten sollte. Wieder abholen? Bitteres Gelächter kitzelte ihn im Hals.
     Die einzige Kutsche, die ihn abholen würde, war die des Beerdigungsinstituts aus der Golden Lane, die vor |24| acht Jahren an ebendieser Stelle abgeholt hatte, was von seiner geliebten Marie übrig gewesen war.
    «Vergiss einfach, dass du mich hierhergefahren hast», sagte er.
    Der tiefe Ernst, der das Gesicht des Kutschers überschattete, rührte ihn. Ahnte Harold, wozu er hergekommen war? Andrew war
     sich nicht sicher,
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