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Feuersteins Reisen

Feuersteins Reisen

Titel: Feuersteins Reisen
Autoren: Herbert Feuerstein
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EINLEITUNG
    Was vorher geschah

    Im Flugzeug saß ich mal neben einem amerikanischen Ehepaar, freundliche Mittelständler, so um die fünfzig, und durchaus gebildet — was für Amerikaner bedeutet: Sie wissen, dass es auch außerhalb der Vereinigten Staaten menschliches Leben gibt. So beiläufig erwähnte ich, dass ich in Kenia schon mehrmals über den Äquator gelaufen sei. »Oh«, staunten sie, »und wie sieht dieser Äquator aus?«
    Es ist ein schmales, weißes Band mit einem Klohäuschen an jedem Längengrad und einer Tankstelle in der Mitte, hätte ich am liebsten gesagt, aber dann wurde mir die Unschuld der Frage bewusst und die Überheblichkeit meiner Besserwisserei. Also sagte ich die Wahrheit: »Er existiert nur in unserer Fantasie.«
    Ich bin fünfhundert Jahre zu spät geboren. In der Renaissance konnte man noch alles wägen und messen, und damit begreifen, im wahrsten Sinn des Wortes; jeder Neugierige war ein Wissenschaftler, jeder Wissenschaftler ein Universalist. Heute lese ich im >Spektrum der Wissenschaft über die Endlichkeit des Alls, für Laien wie mich geschrieben, mit tollen Bildern von hyperbolischen Räumen und dem euklidischen Zwei-Torus, und merke spätestens nach der ersten Seite, dass ich nichts davon verstehe. Vielleicht ist das All nur ein schmales, weißes Band mit einem Klohäuschen an jedem Breitengrad und einer Tankstelle in der Mitte.
    Gegen Ende meiner Volksschulzeit kam der unvermeidliche Aufsatz »Was ich einmal werden will«. Meine Mitschüler spürten, was die Lehrerin erwartete, und wollten Erfinder, Helden und Retter der Menschheit werden (wobei unser kürzliches Klassentreffen freilich bewies, dass es nicht klappte: Sie wurden Rentner). Ich habe mein altes Aufsatzheft noch und zitiere daraus mein damaliges Lebensziel: »Ich will Rechtsanwalt werden damit ich viel Geld verdiene und eine schöne Frau heiraten werde.«
    Ich weiß noch genau, dass der Aufsatz dem Direktor vorgelegt wurde, weil meine besorgte Lehrerin darin sexuelle Frühreife und sittliche Verwahrlosung zu erkennen glaubte — wie recht sie doch hatte. Aber der Direktor lachte darüber hinweg, wahrscheinlich aus der gleichen sittlichen Verwahrlosung heraus, und meine Mutter schüttelte nur entsetzt den Kopf, wie über alles, was mich betraf, auch meine Existenz. Dabei war dieser Aufsatz genauso verlogen wie die Wünsche meiner Weltverbesserer-Klassenkollegen. Ich hatte diesen Satz nur geschrieben, weil er mir gefiel, als Satz, nicht als Inhalt, im gleichen Zustand der Unschuld, in dem ich mich auch heute noch befinde. Auch die Reaktion ist bis heute die gleiche geblieben: Ein paar Lacher und viel Ratlosigkeit. In Wahrheit wollte ich damals was ganz anderes werden.
    Unsere Lehrerin hatte uns gerade vorgetragen, dass die marmornen Säulen und Körperteile der Antike heute völlig wertlos wären, hätte es nicht die Geschichtsschreiber gegeben, die uns überlieferten, was sich damals abspielte. Zum Beispiel, wie Hannibal auf einem Elefanten in Rom einritt, worauf zur ewigen Erinnerung Säulen und Statuen gebaut wurden, die dann, als der Vesuv ausbrach, alle wieder kaputtgingen. Oder die Evangelisten, so die Lehrerin weiter, ohne die Jesus zwar für uns gestorben wäre, aber völlig umsonst gelebt hätte, weil niemand von ihm wüsste. Da ich mich Jesus damals sehr nahe fühlte und man ja nicht beides werden kann, Jesus UND Evangelist, beschloss ich, Geschichtsschreiber zu werden.
    Mit Heft und Bleistift setzte ich mich auf den Balkon unseres Hauses und wartete auf den Lauf der Geschichte, die ich ab jetzt niederschreiben würde, für alle Zeiten danach. Aber es passierte nichts. Einmal kam ein Jeep mit amerikanischen Soldaten vorbei, denn das war die Nachkriegszeit, und ich schrieb es auch auf. Aber danach geschah überhaupt nichts mehr. Nicht mal ein Vulkanausbruch, obwohl Föhnwetter herrschte, ein glasklarer Tag, der die ohnehin schon viel zu nahen Berge Salzburgs noch näher ranrückte, so dass der Untersberg, bei gewöhnlichem Wetter fünf Kilometer entfernt, jetzt direkt vor dem Balkon stand. Aber er brach nicht aus.
    Ich wartete, solange ein Neunjähriger eben warten kann. Vielleicht sogar eine ganze Stunde. Danach verlor ich das Interesse an diesem Beruf.
    Später wurde mir klar, dass der Wurm in der Herangehensweise lag. Schon Herodot saß ja nicht auf dem Balkon und wartete, sondern reiste nach Afrika und Asien. Und dann erst Alexander von Humboldt, David Livingstone oder Roald Amundsen, sie reisten nicht
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