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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit
Autoren: Félix J. Palma
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war: Jede nur vorstellbare Welt, Zivilisation, Kreatur oder Situation existierte bereits. Es gäbe, zum Beispiel,
     eine Welt, auf der eine nicht säugende Art von Lebewesen das Sagen hätte; eine andere, in der Vogelmenschen in riesigen Nestern
     lebten; eine, in der man das Alphabet an den Fingern abzählte; in einer weiteren würde die Erinnerung im Schlaf ausgelöscht,
     und die Menschen begännen jeden Morgen ein neues Leben; in einer anderen gäbe es tatsächlich einen Detektiv namens Sherlock
     Holmes, dessen unzertrennlicher Begleiter ein gewitzter Lausbub namens Oliver Twist wäre; und es gäbe eine Welt, in der ein
     Erfinder eine Zeitmaschine gebaut und ein dekadentes Paradies im Jahr 802701 entdeckt hätte. Ins Extrem getrieben, würde es
     irgendwo im Universum sogar einen Ort geben, in dem die physikalischen Gesetze Newtons keine Geltung hätten und der deshalb
     von Feen, Einhörnern, Sirenen und sprechenden Tieren bevölkert sein könnte, denn in einer Welt, in der alles möglich war,
     wären auch Kindermärchen keine Erfindungen mehr, sondern Plagiate aus anderen Welten, in die ihre Autoren, aus welchen Gründen
     auch immer, einen Blick hatten werfen können.
    |712| Es gab also gar keine Erfindungen? Alle Welt kopierte bloß?, fragte sich Wells. Der Schriftsteller dachte mehrere Minuten
     lang darüber nach, die ich dafür nutzen will, mich von Ihnen zu verabschieden, da sich ja nun das Ende dieser Geschichte andeutet.
     Haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, und ich hoffe aufrichtig, dass Sie die Vorstellung genossen haben. Kehren wir
     jetzt zu Wells zurück, der mit einem fast metaphysischen Schaudern aus seiner Versunkenheit auftauchte, da seine Gedanken
     ihn zu einer weiteren Frage geführt hatten. Und wenn sein eigenes Leben von jemandem aus einer anderen Wirklichkeit geschrieben
     würde, einem aus dieser Parallelwelt zum Beispiel, die der seinen so ähnlich war, nur dass es dort keine Firma namens ZEITREISEN
     MURRAY gab und Gilliam Murray ein Autor von unsäglichen Schundromanen war? Er bedachte ernsthaft die Möglichkeit, dass jemand
     sein Leben zur Vorlage nehmen und es als Roman ausgeben könnte. Aber wer sollte so etwas tun? Er war doch kein Romanheld!
     Wenn er, wie Robinson Crusoe, auf einer einsamen Insel gestrandet wäre, wäre er nicht einmal imstande gewesen, ein einfaches
     Tongefäß herzustellen. Außerdem war sein Leben viel zu fade, als dass jemand auf eine Weise davon erzählen könnte, dass mögliche
     Leser einen Gefühlsaufruhr erlebten. Andererseits musste er zugeben, dass die letzten Wochen einigermaßen aufregend gewesen
     waren. Innerhalb weniger Tage hatte er das Leben von Andrew Harrington und das von Claire Haggerty gerettet, und zwar allein
     durch die Kraft seiner Vorstellung, wie Jane nicht ohne Sinn für Dramatik hervorgehoben hatte, als spreche sie zu einem Publikum,
     das er nicht hatte sehen können. Im ersten Fall hatte er vorgeben müssen, eine Zeitmaschine, wie sie in |713| seinem Roman vorkam, zu besitzen; im zweiten war er in die Rolle eines Liebesbriefe schreibenden Helden der Zukunft geschlüpft.
     War das Stoff für einen Roman? Möglicherweise. Einen Roman vielleicht, in dem beschrieben wurde, wie die Firma ZEITREISEN
     MURRAY entstand, wozu er unglücklicherweise beigetragen hatte, und der für seine Leser zur Mitte hin eine Überraschung bereithielt,
     wenn aufgedeckt wurde, dass das Jahr 2000 nur ein aus Abraumschutt bestehendes Bühnenbild war; eine Überraschung allerdings,
     die natürlich nur für die Leser seiner Epoche eine wäre. Würde der Roman überleben und auch nach dem Jahr 2000 noch gelesen
     werden, gäbe es jedoch kein Geheimnis mehr zu lüften, denn dann hätte die Wirklichkeit selbst die im Roman beschriebene Zukunft
     ad absurdum geführt. Bedeutete das aber, dass man keinen Roman schreiben konnte, der in seiner Epoche spielte und in dem über
     eine Zukunft spekuliert wurde, die für den Autor bereits Vergangenheit war? Ein trauriger Gedanke. Lieber stellte er sich
     vor, die Leser begriffen, dass sie den Roman lesen müssten, als lebten sie im Jahr 1896 und hätten das Gefühl, selbst eine
     Zeitreise unternommen zu haben. Und da der Schriftsteller Wells zum Helden nicht taugte, würde es ein Roman werden müssen,
     in dem er eine Nebenrolle spielte, jemanden, den die eigentlichen Protagonisten aufsuchten, wenn sie nicht weiterwussten.
    Aber auch wenn jemand in einer Parallelwelt sein Leben aufgeschrieben hätte,
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