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Im Schatten der Tosca

Im Schatten der Tosca

Titel: Im Schatten der Tosca
Autoren: Susanne Kaiser
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Mariana
    Mariana Pilovskajas Vater stammte aus Sankt Petersburg und hatte dort als junger Bursche bei seinem Onkel eine kaufmännische Lehre absolviert. Da die Firma gute Beziehungen zu Skandinavien unterhielt, wurde der tüchtige Nicolai nach seiner Volljährigkeit zu einem Geschäftspartner nach Stockholm geschickt. Dort sollte er sich erst einmal umsehen und Auslandserfahrung sammeln.
    Das tat er recht hingebungsvoll. Zu Hause hatte die große Familie den jungen Mann umsorgt, das war zwar bequem gewesen, aber manchmal auch lästig. Die neue Freiheit gefiel ihm sehr. Als Erstes schrieb er sich an der Universität ein, Juristerei, Staatskunde, Geschichte, Philosophie. »Das alles kommt meinen kaufmännischen Bestrebungen zugute«, erklärte er in sehr vernünftig klingenden Briefen nach Hause.
    Letzten Endes stimmte das sogar. Während er sich eine Zeitlang mit seinen Kommilitonen die Nächte um die Ohren schlug und sich gelegentlich mit brummendem Schädel in eine Vorlesung schleppte, um dort Verabredungen für weitere Abenteuer zu treffen, knüpfte er ganz arglos Freundschaften und Bekanntschaften mit den zukünftigen Rechtsanwälten, Professoren, Richtern, Ärzten, Abgeordneten, Ministern des Landes.
    Nicolai hatte nie vorgehabt, sein Studium zu beenden, wozu auch, er hatte einen Beruf, der ihm gefiel. Aber wie die anderenwilden, bald wieder gezähmten jungen Männer fing auch er an, sich nach einer Ehefrau umzuschauen. Dabei ging er keineswegs berechnend vor, davor bewahrte ihn seine schwärmerische Seele. Er tat das für ihn genau Richtige: Er besann sich auf die hübsche Tochter des Geschäftsfreundes seines Onkels.
    Die hatte sich ganz der Sangeskunst verschrieben und ihren beeindruckten Freundinnen feierlich gelobt, dass sie nie heiraten werde, sondern Sängerin werden wolle. Da die schwedischen Männer Birgit langweilten und sie eigentlich keinen Nicht-Schweden kannte außer Nicolai, der sich aber bei ihren Eltern kaum je blicken ließ, störte nichts ihren Seelenfrieden. Plötzlich aber kam Unruhe auf, denn der junge Russe erschien nun jeden Tag, mit einem Sträußlein, einem Gedicht, wundersamen Reden, und irgendwann erlag die besonnene Schwedin seinem Charme.
    Also doch Ehefrau – statt Sängerin! Wie alle ihre Freundinnen, alle anderen Mädchen auch. Beides miteinander zu verbinden, es wenigstens zu versuchen, auf diese Idee kam kein Mensch. Auch Birgit nicht. Dafür konnte sie sich endlich eingestehen, dass ihr vor der unbürgerlichen, unseriösen Theaterwelt fast ein bisschen gegraust hatte – und vor allem, dass sie eigentlich unglücklich gewesen war über ihre »falsche Stimme«. Die war geschaffen für leichtfüßige Mädchen, leichtsinnige Soubretten, Kammerkätzchen oder für Koloraturen zwitschernde Damen, aber nicht für die schweren, tragischen Heldinnen, die ihrem eher herben Wesen entsprachen. Eine Fotografie aus der Verlobungszeit zeigte sie noch einmal als angehende Sängerin: ein ernstes, blondbezopftes Mädchen, den empfindlichen Hals durch einen Pelzkragen geschützt. Mit einer Notenrolle unter dem Arm.
    Immerhin gab Birgit auch nach der Heirat das Singen nicht auf, und so wurde Mariana schon im Mutterleib freundlich umwogt und eingestimmt von weiblichem Gesang, nur gelegentlich aufgeschreckt durch allzu heftige pianistische Einlagen des Begleiters am Klavier.
    So vertraut war sie mit dieser Stimme, dass sie ihr erstes Trinken erst aufzunehmen geruhte, als die Mutter der Neugeborenen ein Lied trällerte. Noch Jahre später half alles Zureden nichts, wenn Mariana etwas nicht essen wollte: Es musste gesungen werden, erst dann sperrte sie brav den Schnabel auf. Meist sang die Mutter mit ihrer hohen, biegsamen Stimme schwedische Kinderlieder, Kunstlieder, Arien, die Königin der Nacht, bei der Mariana vor Staunen das Schlucken vergaß. Manchmal erschien auch der Vater und sang mit seiner tiefen Stimme russische Lieder, das gefiel Mariana noch besser. »Dir frisst Mariana wirklich aus der Hand«, sagte die Mutter.
    Singen, das war für die kleine Mariana die allernatürlichste menschliche Ausdrucksweise. Nur selbst singen mochte sie nicht. Sie liebte den Sopran der Mutter, sie vergötterte den tiefen Bass des Vaters. Aber ihre eigene Stimme hatte leider weder vom einen noch vom anderen etwas, sie kam nicht in die Höhe und nicht in die Tiefe, und in der Mitte piepste sie nur. »Eine Kinderstimme, wart’s ab«, meinte die Mutter. Aber Mariana wusste es besser. Stille sein – und
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