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Der König von Berlin (German Edition)

Der König von Berlin (German Edition)

Titel: Der König von Berlin (German Edition)
Autoren: Horst Evers
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    Erster Tag
    D ie Leiche lag mitten im Sandkasten.
    Kein Wunder, dass die Frau am Telefon so laut gewesen war. Lucy, ihre fünfjährige Tochter, war wohl nach dem Frühstück zum Spielen in den Hof, hatte die Schutzplane vom Sandkasten gezogen und den leblosen Körper entdeckt. Andere Kinder hätten die Leiche womöglich zuerst erforscht, sich die Augen angeschaut, gefühlt, wie kalt und schwer sie ist, ob hart oder weich. Aber so war Lucy nicht. Lucy war eher eines dieser «Ich-laufe-am-besten-mal-rot-an-und-schreie-dann-so-laut-ich-kann»-Kinder. Und Lucy konnte sehr laut schreien. Auch schrill und hoch. Gerade noch so in den Grenzen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens. Lucy wusste, wie gut sie schreien konnte. Es strengte sie nicht an, es machte ihr Freude, gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Das ist natürlich ein kostbares Gut bei einem Kind. Einmal, im Flugzeug, war es ihr sogar gelungen, so lange und eindrucksvoll zu schreien, bis sie zur Belohnung den Piloten im Cockpit besuchen durfte. Daher war die Frau so laut gewesen, wenngleich sie routiniert im Übertönen ihres Kindes schien, wie manche Bauarbeiter, die auch die Fähigkeit entwickelt haben, in unmittelbarer Nähe des Presslufthammers zu telefonieren.
    Toni Karhan tippte mit dem Fuß gegen die Leiche. Der mittelgroße, schwarzhaarige, schlanke, aber kräftige Mann im unauffällig-eleganten Anzug wusste, was er tat. Er war einer der Besten, vielleicht sogar der Allerbeste in seinem Fach. Er hatte noch beim Alten gelernt. Beim großen Alten. Der hatte ihm alle Tricks beigebracht. Alle Tricks, doch nicht alles, was er wusste.
    Toni konnte mit seiner Fußspitze mehr über eine Leiche erfahren als andere mit einem ganzen Labor. Er trat noch mal leicht gegen den leblosen Körper. «Ist seit höchstens vierundzwanzig Stunden tot. Vergiftet.»
    Frau Kreutzer, Lucys Mutter, lachte verächtlich: «Na, ganz toll. Vergiftet. Das hätte ich mir vielleicht auch noch gerade so zusammenreimen können. Glückwunsch!»
    Georg Wolters nahm Toni zur Seite. «Vierundzwanzig Stunden? Bist du dir da wirklich sicher? Ich meine, die sieht doch schon ziemlich aufgedunsen und fertig aus.»
    «Ganz sicher.»
    «Also, ich hätte gedacht, die liegt länger. Und das kriegst du raus, indem du nur einmal kurz mit dem Fuß dagegentippst? Wahnsinn.»
    Toni schaute ihn ausdruckslos an. «Gewicht, Geräusch, Konsistenz. Das alles sagt viel über Todesursache und Todeszeitpunkt. Aber ganz sicher, dass sie hier nicht länger liegt als einen Tag, ich bin, weil ich habe gefragt Kind, wann es zuletzt hat gespielt in Sandkasten.» Die Einweghandschuhe schnalzten, als Toni sie gegen ihren ausdrücklichen Widerstand über seine Hände zubbelte. Dann holte er einen Schraubenzieher aus der Tasche, beugte sich hinunter und untersuchte das Gebiss.
    Georg war unzufrieden. «Aber warum ist das Biest denn schon so verrottet nach höchstens vierundzwanzig Stunden?»
    Toni strich vorsichtig über das Fell. «War schlimmes Gift. Nicht gut.»
    Toni war in sein eigentliches, binäres Sprachsystem zurückgekehrt. Im Prinzip konnte er damit alles bewältigen, was an notwendiger Meinungsäußerung anfiel. Was für einen Computer die 1 und die 0 war, war für Toni «gut» und «nicht gut». Wobei er einen großen, einen gewaltigen Vorteil gegenüber Computern besaß. Er hatte noch eine dritte Option: die vielgenutzte Möglichkeit des «ist egal». Sie schenkte ihm ungeheure Freiheit. Wahrscheinlich ist es genau diese Freiheit, sich nicht permanent zwischen 1 und 0 entscheiden zu müssen, sondern Dinge egal finden zu können, die den Unterschied zwischen Mensch und Maschine, vielleicht sogar das Wunder des Lebens selbst ausmacht.
    Ansonsten war Tonis spärliches Ausreizen seiner sprachlichen Möglichkeiten einem pragmatischen Beschluss geschuldet. Eigentlich war sein Deutsch exzellent. In seiner Familie und seiner Heimatstadt Breslau war häufig Deutsch gesprochen worden. Als er vor zehn Jahren zum Studium nach Berlin kam, perfektionierte er es, indem er zahllose Bücher las. Während das Lesen ihm bis heute große Freude bereitet, konnte er sich für das Sprechen nie so richtig begeistern. Im Gegenteil, sein aus Romanen und Dramen erworbener Wortschatz und Satzbau haben die Menschen in Berlin immer mehr irritiert, als dass sie ihm Vorteile verschafft hätten. Als er dann sein Talent als Kammerjäger entdeckte, wurde ihm schnell klar, wie außerordentlich dienlich es seinem
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