Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
Vom Netzwerk:
einschlagen und über den Hausensteinweg zu ihrer Kanzlei zurückkehren. Sie folgen beide der Prinzregentenstraße, die hier längs des Friedensengels ein seitenverkehrtes „S “ beschreibt. Trotz der vielen Autos, die um diese Zeit über die Luitpoldbrücke stadtauswärts strömen, liegt der Gehweg vollkommen im Dunkel. Und richtig: jetzt biegt sie nach rechts zum Isar-Hochufer ein. Er wird ruhiger. Milchig quillt der Nebel über das Ufer herauf und in den Park hinein, wo er Wiesen und Wege verhüllt. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Sie schiebt den linken Ärmel hoch und schaut auf die Uhr. Dann beschleunigt sie ihre Schritte, und auch er wird schneller.
    Jetzt, denkt er, jetzt muß es geschehen. Der Abstand zu ihr wird kleiner. Er tastet nach dem Messer. Seine Gedanken sind nun vollkommen klar: Er wird sie überholen, einen Zwischenspurt einlegen, dann wird er sich umdrehen, einen Moment verschnaufen und ihr wieder entgegenlaufen. Und genau in dem Moment, in dem er sie passiert, wird er ihr den Dolch in die Brust stoßen. Blitzschnell, in vollem Lauf, ohne anzuhalten. Und dann wird er durch die Finsternis davonlaufen. Er wird sich nicht einmal nach ihr umsehen, wenn sie tot auf dem Kiesweg zusammenbricht. Es ist ganz einfach, denkt er, ganz einfach.
    Er ist keine zwanzig Meter mehr hinter ihr und setzt gerade zum Überholen an, als ein Jagdhund aus den Erlen am Wegrand auf sie zuspringt. Sie weicht nach links aus. Der Hund springt an ihr hinauf und bellt sie an. Sie bleibt stehen; unwillkürlich tut er dasselbe. Sie reißt die Arme nach oben und weicht zurück, und auch er geht einige Meter rückwärts. Ein Mann im Lodenmantel taucht aus den Büschen auf und ruft den Hund. Der Hund läßt von ihr ab und springt in Richtung Friedensengel davon. Der Mann sagt etwas, hebt den Hut und geht weiter. Wie angewurzelt steht sie keine zehn Meter vor ihm und blickt dem Mann und seinem Hund nach. Endlich dreht sie sich um, erblickt ihn, und einen Augenblick fürchtet er, daß sie ihn erkennen werde. Aber sie schaut ihn nur ausdruckslos an, bis sie weiterläuft. Er überholt sie nach wenigen Metern und geht in einen Spurt über. Der Weg verläßt den Schutz der Bäume, überquert eine weite Wiese, führt danach einen Hügel hinauf und dort wieder unter die Bäume hinein. Tausende von Kilometern ist er während der letzten Jahre gelaufen, dieser läppische Hügel hier ist gar nichts für ihn, spielend müßte er da hinaufkommen. Aber heute geht nichts spielend. Mit schweren Schritten und fliegendem Atem nimmt er die leichte Steigung. Auf der Hügelkuppe sitzt er dann japsend und mit stechendem Herzen auf einer Bank und verschnauft einen Augenblick. Hernach dreht er sich um und trabt den Anstieg wieder hinunter. Sie kommt ihm direkt entgegen. Sie muß lautlos zusammensinken und sofort tot sein. Immer wieder hämmert das die Stimme in seinem Kopf: Sie muß sofort tot sein; mit einem Stich muß alles vorbei sein; mit dem ersten Stoß muß er sie ins Herz treffen.
    Aber er hat die Entfernung unterschätzt. Als sie keine hundert Meter mehr vor ihm ist, klemmt der Reißverschluß des Anoraks. Er zieht und reißt am Schieber, bis er endlich die Krampen mit beiden Händen auseinandergezerrt und das Messer mit seiner langen Klinge herausgerissen hat. Im letzten Moment schnellt er die rechte Faust mit dem scharfen Stahl in ihren Schatten und sticht mit aller Kraft zu. Sein Handrücken berührt etwas Weiches, Warmes, Feuchtes. In einer Reflexbewegung reißt sie die Arme in die Luft, dann ist er an ihr vorbei.
    Er will auf und davon laufen, aber er bringt es nicht fertig. Er blickt sich um. Was er sieht, läßt ihn schnaufend anhalten: Sie geht, die Hände in die Seiten gestützt, die Steigung hinauf. Sie ist nicht tot; ja sie wirkt nicht einmal verletzt. Doch dann wird sie langsamer, torkelt, stolpert und sinkt in die Knie. Sie sitzt mitten auf dem Kiesweg. Er läuft zu ihr zurück. Sie schaut zu ihm hinauf.
    „Ich bin gestolpert ... ich …“
    Obwohl er nichts sagen will, fängt er an zu reden.
    „Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“
    „Es geht schon wieder.“
    Er faßt ihr unter die Achseln und zieht sie zum Wegrand. Sie richtet sich auf. Jeden Moment kann jemand kommen, und er weiß nicht einmal, ob er sie überhaupt verletzt hat.
    „Danke.“
    Er blickt ihr ins Gesicht, das älter und voller geworden ist. Ihre ehemals langen, dunklen Haare trägt sie jetzt blond und kurz. Nur ihre Augen sind noch dieselben. Ihre funkelnden,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher