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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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über die Leiche, schaut in ihre toten Augen und sagt: „Sein Name war Florian.“
    Dann drückt er ihr die Lider zu und schleift sie tief in das Haselnußgehölz hinein, das den Weg hier säumt. Vom Weg aus ist sie nicht mehr zu sehen. Wenn er Glück hat, wird sie vor morgen früh keiner finden. Er sieht auf die Uhr: kurz nach sieben. Keine Stunde ist vergangen, seit sie sich auf ihren letzten Weg gemacht hat.
    Er steht auf und späht aus den Büschen auf den Weg hinaus: weit und breit kein Mensch. Er kriecht aus Zweigen, von denen der Rauhreif schneit, hervor, glättet seine Kleidung und putzt ihr Blut von seinem Anorak. Er hat noch einen weiten Weg vor sich, aber der Erfolg gibt ihm Kraft und Leichtigkeit. Ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmt ihn. Sie ist tot, tot, tot. Nach all diesen Jahren der Demütigung, nach dieser scheinbar nie endenden Reise durch den Winter seines Lebens bricht nun ein später Frühling an. Minutenlang steht er da, ohne die Kälte zu spüren, läßt seinen Blick über die Lichter Münchens, die sich in den Wassern des Flusses spiegeln, schweifen und denkt: Das ist die beste Stadt der Welt und dies der schönste Augenblick meines Lebens.
    Dann läuft er mit weiten Schritten am Fluß entlang. Und ein Gestirn ist jetzt heller als alle anderen am Himmel zu sehen: Orion, der große Jäger. Orion, der Artemis nach der kretischen Jagd damit gedroht hatte, alle Tiere der Erde umzubringen, was selbst den Göttern zu viel gewesen war, weshalb sie ihn erst töteten, dann aber in einem Akt der Vergebung hinauf in den Himmel holten, wo er seitdem alle anderen Sternzeichen überstrahlt.

Kapitel 2              
    In Wirklichkeit war unsere Ehe schon vor Florians Geburt am Ende. Ich mache mir da schon lange nichts mehr vor. Wir teilten zwar noch Tisch und Bett, aber aus Liebe und Respekt waren Gleichgültigkeit, Abneigung, ja Haß geworden: Es gibt kein anderes Wort. Heute weiß ich, daß ich ihn bereits nach zwei, drei Jahren verabscheut habe. Und genau zu dem Zeitpunkt mußte ich schwanger werden. Als der Teststreifen sich im Morgenurin blau verfärbte, da war mein erster Gedanke: weg damit . Ich wollte kein Kind. Nicht zu diesem Zeitpunkt , und schon gar nicht von Michael.
    Er konnte das überhaupt nicht verstehen. Denn er wünschte sich Kinder; und nicht nur eines, nein: vier oder fünf hätte er gerne gehabt. Er wurde ja nicht schwanger, er mußte keine Karriere unterbrechen, und er mußte sich nicht Jahre lang nach Hause setzen und dada-dudu sagen. Er wünschte sich kleine Menschen aus Ton, die er formen konnte wie Prometheus, denn Michael ist der geborene Lehrer, Mentor und Erzieher. Und er wollte natürlich Nachfolger und Erben, denen er einmal sein Vermögen hinterlassen konnte, das er damals schon so fleißig aufbaute.
    Daß ich Florian abtreiben wollte, wirft er mir seit Florians Geburt vor. Jede Woche fängt er mindestens einmal davon an – und das nach all den Jahren. Ich hätte die Abtreibung gewollt, nicht er. Ich hätte unsere Ehe damit zerstört, heißt es dann, nicht er. Und das sagt er immer in dem eitlen Ton seines unerschütterlichen Selbstvertrauens, der mir zu verstehen geben soll, daß er bei großen und wichtigen Angelegenheiten mehr Weitblick hat als ich. Denn er wußte wie immer alles schon vorher: In Wirklichkeit hätte ich ja auch ein Kind gewollt. Und als Florian auf der Welt war, da hätte ich mich doch auch gefreut.
    Was er nicht sagt, aber denkt, ist, daß nur er Florian geliebt hat. Denn er hat die Abtreibung verhindert, er war immer mit dabei, wenn Florian ins Krankenhaus kam, und er hat Florians Sonderbehandlungen aus eigener Tasche bezahlt. Mit einem Wort: Ohne seine Liebe, seine Fürsorge, seine Voraussicht und natürlich ohne sein Geld wäre aus dem Zellhaufen – ja, ich habe das einmal gesagt, aber ich habe es nicht so gemeint – nie der Mensch geworden, der Florian dann wurde. Das seien Fakten, sagt er dann. Seine Liebe zu Florian sei beweisbar. Genauso wie meine Nicht-Liebe zu Florian wahrscheinlich auch beweisbar ist. Michael ist ein Mensch, für den ausschließlich Fakten zählen. Und weil für ihn alles, was er jemals getan hat, belegbar ist, kann er auch immer dieselbe bequeme moralische Position einnehmen, die da lautet: Ich habe immer alles richtig gemacht und für mein Kind alles Menschenmögliche getan . Mir ist es nie gelungen, so zu denken, denn ich habe nicht alles richtig gemacht, aber ich bin wenigstens bereit, es
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