Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
Vom Netzwerk:
Kapitel 1              
    Er steht jetzt seit einer Stunde vor dem Haus, aber sie kommt nicht heraus. Immer wieder schaut er nach links und nach rechts, um zu sehen, ob ihn jemand beobachtet. Er kann nicht mehr lange vor ihren Fenstern stehen. Irgendwann wird er einem Nachbarn auffallen, und der wird die Polizei rufen. Inzwischen ist es dunkel, ein kalter Nebel steigt vom Fluß herauf, der Baumspitzen und Zweige mit Rauhreif überzieht. Es ist eine klare, mondlose Nacht; am Himmel gehen die ersten Sterne auf. Er tritt von einem Fuß auf den anderen, reibt sich die Hände und spürt, daß er schon wieder pissen muß. Er stellt sich hinter einen Baum und schiebt die Trainingshose hinunter. Regungslos betrachtet er seinen Strahl, der dampfend die Borke der Platane näßt. Er krault sich den Hodensack und massiert sich mit zwei Fingern den Damm. Als er die Hose wieder hinaufzieht, spürt er Urintropfen warm und ekelhaft an seinen Beinen hinunterrinnen.
    Sie wohnt und arbeitet in der florentinischen Villa, die er seit einer Stunde beobachtet. Zierliche Erker, ein antikisierender Fries, schlanke Türmchen und das rote Klinkerdach geben dem Haus ein südländisches Gepräge, das es vom Gründerzeitstil der Nachbarhäuser abhebt. Ihre Kanzleifenster gehen auf einen weitläufigen Balkon, der von korinthischen Säulen mit prächtigen Akanthusblättern begrenzt wird. Neben der Eingangstür schimmern Messingschilder, die anzeigen, daß Rechtsanwälte und Steuerberater hier ihre Kanzleien haben. Vor dem schmiedeeisernen Tor stehen ein schwarzer Audi und ein BMW-Zweisitzer. Nicht weit von hier hat Thomas Mann gewohnt. Die Villa Stuck und das Prinzregententheater liegen wenige Gehminuten entfernt. Es ist ein Viertel mit alten Bäumen, ruhigen Straßen und stattlichen Villen, die in tiefen Gärten stehen. Die Menschen, die hier leben und arbeiten, sind in Anzug und Kostüm auf die Welt gekommen.
    Genau die richtige Adresse also für Deutschlands bekannteste Strafverteidigerin: eine Frau von sprühender Intelligenz, die - nicht eigentlich schön, aber eloquent, schlagfertig und publikumsgewandt - bei keiner Talk-Show fehlen darf, in der die Täter verstanden und die Opfer verhöhnt werden.
    Jeden Abend gegen sechs tritt sie aus der Haustür, wärmt sich auf und joggt dann an der Isar entlang. Jeden Abend, nur offenbar heute nicht. Wenn sie nicht bald erscheint, dann hat er seine letzte Chance vertan. Zum x-ten Mal greift er in die Innentasche seines Anoraks, der zum Laufen ideal, aber zum Herumstehen in der Kälte viel zu dünn ist. Seine Finger tasten nach dem Griff des Messers. Er löst die Waffe aus der Halterung und nimmt sie in die Hand. Die lange Klinge ist kalt, aber der Kunststoffgriff mit seiner Fischhautstruktur liegt beruhigend und warm in seiner Faust.
    Ein Taxi kommt die Allee herauf und hält vor ihrem Haus. Die Innenbeleuchtung des Wagens wird angeschaltet, ein Rücken ist zu sehen: ein Fahrgast, der bezahlt. Eine Person in Hut und Mantel steigt aus und geht auf die Haustür zu. Sie bekommt Besuch. Ein Mandant? Ein Kollege? Aber um diese Zeit? Deshalb läuft sie heute nicht . Seine Enttäuschung ist so stark, daß er sich mit dem Rücken an die Platane lehnt und laut aufseufzt. Der Mann im Mantel schließt die Haustür auf und verschwindet im Hauseingang. Der Schein der Treppenbeleuchtung fällt auf die Magnolie vor dem Haus, nur um einige Minuten danach wieder zu erlöschen. Er blickt auf die Fenster der Kanzlei, die zum Treppenhaus führen, aber sie bleiben dunkel. Dafür wird es in den Dachgauben hell. Er atmet aus.
    Und dann steht sie so plötzlich vor dem schmiedeeisernen Tor, daß er sie fast übersehen hätte. Sie kommt über die Straße genau auf ihn zugelaufen. Er drückt sich gegen die Platane, rutscht um den Stamm herum, stolpert über Erd- und Hundehaufen, bis er endlich im Dickicht der Strauchrabatten untertaucht, während sie in Richtung Europaplatz entschwindet. Schnaufend kriecht er aus den Sträuchern wieder heraus und eilt ihr nach.
    Es muß zufällig aussehen, das ist das Wichtigste. Wenn sie sich umdreht, dann muß er wie irgendein beliebiger Jogger wirken. Langsam trabt sie dahin. Er folgt ihr mühelos. Ihre Beine stecken in Woll-Leggins, über die sie gelbe Socken gerollt hat. Sie hat dicke Waden und einen breiten Hintern, aber sie läuft mit weichen, federnden Schritten. Wenn sie heute dieselbe Strecke nimmt wie sonst auch, dann wird sie am Isarhochufer den Weg zur Bogenhausener Kirche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher