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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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durchdringenden Augen, in denen Klugheit, Selbstbewußtsein und Argwohn dicht beieinander liegen. Er sucht auf ihrem hellen Fleece-Pullover nach Spuren von Blut, aber es ist nichts zu sehen. Sie atmet einige Male tief durch und blickt auf den Pulsmesser.
    „Mein Puls ist fast wieder normal.“
    Sie nickt, lächelt ihn sogar an, dann dreht sie sich um und läuft weiter. Er ist zu verblüfft, um auch nur ein Wort zu sagen. Aber sie kommt nicht weit. Nach hundert Metern fällt sie der Länge nach hin. Er ist sofort bei ihr. Und jetzt sieht er den dunkelroten Fleck auf dem Pullover, genau über dem Herz.
    „Mir ist schwindlig“, sagt sie.
    „Setzen Sie sich auf.“
    Er schiebt den Arm unter ihre Schultern und richtet sie auf, bis sie vor ihm auf dem Kies sitzt. Im Schein der Gehwegbeleuchtung glänzt der Fleck auf ihrem Pullover.
    „Mir ist schlecht“, sagt sie.
    Und mit einem Mal begreift er, weshalb sie nichts spürt. Er hat sie mitten ins Herz getroffen. Ein perfekter Stich.
    „Es ist gleich vorbei.“
    Ihre Augen starren ihn an.
    „Was ist gleich vorbei?“
    „In ein paar Minuten sind Sie tot.“
    Sie antwortet nicht.
    „Es kann auch eine halbe Stunde dauern. Ich habe Ihnen einen Stich ins Herz verpaßt. Mit jedem Herzschlag spritzt jetzt Blut in den Herzbeutel und pumpt ihn auf wie einen Luftballon. Und wenn Ihr Herz ganz voll mit Blut ist, hört es auf zu schlagen. Und dann sind Sie tot.“
    „Was für ein Stich, ich habe keinen Stich ...“
    „Oh doch. Ich habe Ihnen im Vorbeilaufen mit dem Messer einen Stich ins Herz versetzt. Sie haben nur nichts gespürt, weil dieser Tod schmerzlos ist.“
    Er läßt sie die Waffe sehen.
    „Seien Sie froh, einen schöneren Tod gibt es gar nicht.“
    Dann deutet er auf den Fleck auf ihrem Pullover, der sich stetig ausdehnt und nun bereits groß wie eine Hand ist. Sie sieht ihn an. Ihre Pupillen sind weit geöffnet, die Iris zuckt. Sie versteht ihn immer noch nicht.
    „Sie haben doch von der Kaiserin Sisi gehört, oder? Sie wissen schon, die aus den Filmen mit der Romy Schneider. Wissen Sie, wie die gestorben ist? Die wurde erstochen. Genau wie Sie. Der hat ein Anarchist eine Feile ins Herz gerammt, und trotzdem hat sie noch eine Stunde lang gelebt und gar nichts gespürt. Sie ist sogar noch mit dem Schiff gefahren. Aber Sie werden nicht so viel Glück haben, denn ich warte nicht eine Stunde, bis Sie endlich verreckt sind.“
    Plötzlich fängt sie an zu schreien: Hilfe und wieder: Hilfe . Ihre Stimme überschlägt sich. Er verschließt ihren Mund mit seinem Handschuh, bis nur noch ein Gurgeln zu hören ist. Dann drückt er ihren Kopf mit der linken Hand in die nassen Blätter. Mit der Rechten zieht er den Dolch und hält ihr die Klinge vor das Gesicht. Sie strampelt mit den Füßen und windet den Körper hin und her. Er sieht an ihren Augen, daß sie etwas sagen will. Deshalb beugt er sich so nahe über sie, daß seine Nase fast den Handschuh berührt, mit dem er ihr den Mund zuhält. Er bewegt die Klinge auf ihr rechtes Auge zu, bis die Spitze ihr in den Lidrand schneidet.
    „Ein Laut - und ich steche Ihnen das Auge aus.“
    Sie hustet und keucht, als er den Handschuh um Millimeter nur von ihren Lippen zurückzieht, aber sie schreit nicht. Sie will sich aufsetzen, aber er schüttelt den Kopf und drückt sie in den Dreck zurück.
    „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
    Er blickt ihr regungslos in die Augen.
    „Ich bin der Vater, der durch Nacht und Wind geritten ist.“
    „Was für ein Vater ...?“
    „Der, der den Knaben sicher und warm hält.“
    „Was heißt das? Was wollen Sie, ich habe kein ...“
    „Was ich will?“
    Er lacht plötzlich.
    „Ich will Ihnen ein Leid antun. Oder warum glauben Sie, daß ich gekommen bin? Weil mich Ihre schöne Gestalt reizt, Ihre Schlabbertitten, Ihr Pferdearsch?“
    „Wer sind Sie? Sie sind doch verrückt, was für ein Leid, warum ein Leid? Was soll das heißen?“
    „Nein, ich bin nicht verrückt, ich bin nur vermindert steuerungsfähig . - So heißt es doch, oder?“
    „Niemand der kaltblütig und geplant handelt ist ...“
    „… vermindert steuerungsfähig, sondern voll schuldfähig.“
    Wieder lacht er.
    „Wollen wir so kurz vor Ihrem Tod noch eine juristische Diskussion anfangen?“
    „Wer sind Sie?“
    „Wer ich bin? Na, vielleicht bin ich einer, der wegen einer krankhaften seelischen Störung nicht schuldfähig war. Vielleicht bin ich einer, der nicht im Gefängnis war, sondern in der Psychiatrie. Da wurde
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