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Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter

Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter

Titel: Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
Autoren: Margit Sandemo
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1. KAPITEL
    Er hatte viele Namen, der Gehilfe des Henkers. Blutscherge, Henkersknecht, Schinderknecht, Folterknecht, Scharfrichters Büttel - und Nachtmann. Gleichgültig, mit welchem Namen man ihn auch bedachte, er wurde von allen gleichermaßen verachtet und zutiefst verabscheut. Der Henker selbst genoß zumindest einen gewissen, schaudernd-verächtlichen Respekt. Für seinen Gehilfen hatte man nichts dergleichen übrig. Er war die niedrigste Kreatur auf Gottes Erde.
    Üblicherweise wählte man ihn aus der großen Schar verurteilter oder bestrafter Verbrecher aus. Deshalb fehlten ihm oftmals die Ohren oder die Zunge, jedoch nicht die Hände, denn die brauchte er für seine Arbeit. Er war zu einem lichtscheuen Dasein gezwungen, wagte sich nur in der Dunkelheit hinaus, denn sonst bewarfen ihn die Leute mit Steinen oder spuckten ihn an. Vermutlich kam daher der Name Nachtmann.
    Der Henkersknecht im Kirchspiel Grästensholm war da keine Ausnahme. Die Ausnahme bei diesem Mann war nur, daß er sowohl Zunge als auch Ohren hatte behalten dürfen, weil er, wie so viele seinesgleichen, darum gebeten hatte, Folterknecht werden zu dürfen, anstatt bestraft zu werden. Er war ein verhärmter, griesgrämiger Mann, der mit gebeugtem Nacken in seiner kleinen Kate am Waldrand herumschlich und seinen Haß auf die Menschen an seiner Tochter Hilde ausließ.
    Irgendwann einmal in seiner Jugend war Joel Nachtmann nämlich verheiratet gewesen. Aber sein Charakter war zu schwach, er war auf die schiefe Bahn geraten, und im Angesicht der Strafe hatte er voller Entsetzen darum gefleht, Henkersknecht werden zu dürfen. Man warf ihn in den Kerker, wo er darauf wartete, daß ein solch zweifelhafter Posten frei würde. Als er nach einem Jahr heraus kam, war die Frau gestorben, und das einzige, was ihm geblieben war, waren eine elfjährige Tochter und eine ärmliche Kate am Wald. Da war er inzwischen so bitter und rachgierig auf alle und jeden geworden, daß er dankbar und mit großer Schadenfreude den Posten als Folterknecht annahm - ohne darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutete. Und mit den Jahren war seine Bitterkeit nur noch tiefer geworden, bis sie sich schließlich zu einem abgrundtiefen Haß ausgewachsen hatte. Und diejenige, die das alles mit anhören mußte, war Tochter Hilde. Sie war inzwischen erwachsen, schon seit einigen Jahren. Man konnte sie manchmal sehen, wie sie am Waldrand zwischen Wohnkate und Stall hin und her huschte, oder wenn sie mit frisch gesammelten Beeren aus dem Wald heimkehrte. Aber sie mied die Nähe der Menschen, und die wenigen Zechbrüder, die in früheren Jahren manchmal den Henkersknecht in seiner Waldkate besucht hatten, bekamen sie nie zu Gesicht. Inzwischen kam niemand mehr - keiner hatte Lust, Joel Nachtmanns bittere Haßtiraden anzuhören. Nur seine Auftraggeber ließen sich hin und wieder sehen, wenn es notwendig war, und vor denen versteckte Hilde sich.
    Dann kam das Jahr 1654 und mit ihm ein naßkalter Frühsommertag.
    Andreas Lind vom Eisvolk rodete einen neuen Ackerstreifen am Wald oberhalb der Ländereien von Lindenallee. Seit vielen Jahren schon hatte er die kleine Waldschneise im Auge gehabt und immer gedacht, daß man daraus eigentlich ein schönes Stück Ackerland machen könnte. Wie es aussah, lagen nicht viele Steine im Boden, und das Gestrüpp war noch so niedrig, daß man es leicht umpflügen konnte.
    Dieses Jahr nun hatte er seine Idee endlich in die Tat umgesetzt. Er war jetzt siebenundzwanzig, der Andreas, und eine Frau hatte er immer noch nicht. Er hatte sich irgendwie nie dazu entschließen können. Sicher hatte er sich die Mädchen in der Gemeinde angeschaut, aber keine einzige von ihnen hatte sein Herz höher schlagen lassen.
    Nein, da gefiel es ihm schon mehr, hinter dem Pferd und dem Pflug zu gehen und zuzusehen, wie die schwarze, gute Erde aufbrach und sich ihm darbot. Das hier würde ein schönes Stück fruchtbares Land werden, das war jetzt schon deutlich zu sehen. War wohl am besten, erstmal mit Roggen anzufangen…
    Die Pflugschar knirschte häßlich auf Stein, und er ließ das Pferd anhalten. Es war kein besonders großer Felsbrocken, und er trug ihn mit Leichtigkeit an den Ackerrain. Andreas war ein sehr starker junger Mann. Er kletterte auf ein paar Felsblöcke, von wo aus er die Siedlung überblicken konnte. Unten vom Acker aus konnte man nichts sehen.
    Er ließ sich auf einem großen Steinblock nieder und faltete die Hände um die angezogenen Knie.
    Lindenallee
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