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Die Welt ohne uns

Die Welt ohne uns

Titel: Die Welt ohne uns
Autoren: Alan Weisman
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Vorspiel
     
    Eines Junimorgens im Jahre 2004 saß Ana Maria Santi gegen den Pfahl einer ausladenden Überdachung aus Palmblättern gelehnt. Sie betrachtete missbilligend eine Ansammlung ihrer Nachbarn und Freunde – der Bewohner des Dorfes Mazáraka am Río Conambu, einem Nebenfluss des Amazonas in Ecuador. Vom Haar abgesehen, das auch nach siebzig Jahren noch dick und schwarz war, erinnerten Ana Marias Züge ansonsten an eine vertrocknete Hülsenfrucht. Ihre grauen Augen blickten bleich aus den tiefen Runzeln ihres Gesichts. In einem Dialekt, der eine Mischung aus Kichwa und Zápara, einer fast untergegangenen Sprache, war, schalt sie ihre Nichten und Enkelinnen. Eine Stunde nach Einbruch der Dämmerung waren diese Frauen wie alle anderen Einwohner des Dorfes, mit Ausnahme von Ana Maria, längst betrunken.
    Der Anlass war ein minga, Amazoniens Spielart des Scheunenbaus. Vierzig barfüßige Zápara-Indianer, etliche mit bemalten Gesichtern, saßen in einem dichten Kreis auf Bänken aus Baumstämmen. Um sich in die richtige Stimmung zu bringen, hinaus in den Wald zu gehen, ihn zu roden und niederzubrennen, damit Ana Marias Bruder ein neues Maniokfeld anlegen konnte, schütteten sie literweise chicha in sich hinein. Sogar die Kinder schlürften das milchige, saure Bier aus Maniokbrei, das mit dem Speichel der Zápara-Frauen gegoren wird, weshalb sie den ganzen Tag die Knollen kauen. Zwei Mädchen, die sich Gräser ins Haar geflochten hatten, drängten sich durch die Menge, füllten die Chicha-Becher auf und gaben Schalen mit Welssuppe aus. Den Älteren und den Gästen servierten sie große Stücke gekochtes Fleisch, dunkel wie Schokolade. Doch Ana Maria Santi, die älteste der Anwesenden, aß nichts davon.
    Während der Rest der Menschheit mit großen Schritten ins neue Jahrtausend stürmte, waren die Zápara noch kaum in der Steinzeit angekommen. Wie die Klammeraffen, die sie als ihre Ahnen ansahen, nutzten die Zápara die Bäume als Lebensraum: Mit Lianen banden sie Palmstämme zusammen, die Dächer aus geflochtenen Palmwedeln trugen. Bis zur Einführung des Manioks waren Palmherzen ihr wichtigstes Gemüse gewesen. Ihren Eiweißbedarf deckten sie, indem sie mit Netzen auf Fischfang gingen oder Tapire, Nabelschweine, Wachteln und Hokkos, eine südamerikanische Vogelart, mit Bambuspfeilen und Blasrohren jagten.
    Das tun sie auch heute noch, doch gibt es kaum noch Wild. Als Ana Marias Großeltern jung waren, sagt sie, habe der Wald sie mühelos ernährt, obwohl die Zápara damals einer der größten Stämme im Amazonasgebiet waren. Rund 200000 Stammesmitglieder lebten in Dörfern an den benachbarten Flüssen. Dann geschah etwas in einem fernen Land und nichts in ihrer Welt – oder der irgendeines anderen Menschen – war mehr wie vorher.
    Henry Ford hatte mit der Erfindung des Fließbands die Massenproduktion von Automobilen möglich gemacht und damit die Nachfrage nach luftgefüllten Schläuchen und Reifen derart angekurbelt, dass profitorientierte Weiße jeden schiffbaren Strom Amazoniens auf der Suche nach Gummibäumen und potenziellen Arbeitskräften befuhren. In Ecuador halfen ihnen dabei die Hochland-Kichwas, die einst von spanischen Missionaren bekehrt worden waren und nun die heidnischen Zápara aus der Tiefebene an Bäume ketteten und zur Arbeit zwangen, bis sie an Erschöpfung starben, während sie die Zápara-Frauen und -Mädchen wie Vieh behandelten, vergewaltigten und ermordeten.
    In den 1920er Jahren richteten neue Gummiplantagen in Südostasien den Markt für den wilden Kautschuksaft aus Südamerika zugrunde. Die wenigen Hundert Zápara, denen es gelungen war, sich während des Völkermords zu verstecken, blieben in ihren Schlupfwinkeln. Einige gaben sich als Kichwas aus und lebten unter den Feinden, die nun ihr Land besetzt hatten. Andere flüchteten nach Peru. Ecuadors Zápara galten offiziell als ausgestorben. Nachdem Peru und Ecuador 1999 lange währende Grenzstreitigkeiten beigelegt hatten, stieß man auf einen peruanischen Zápara-Medizinmann, der im Dschungel Ecuadors unterwegs war. Er sei hier, sagte er, um endlich seine Verwandten wiederzusehen.
    Die wiederentdeckten Zápara Ecuadors wurden eine anthropologische Sensation. Der Staat erkannte ihre territorialen Rechte an, auch wenn diese nur noch einen winzigen Bruchteil ihrer einstigen Gebiete betrafen, und die UNESCO unterstützte die Wiederbelebung ihrer Kultur und die Rettung ihrer Sprache. Damals wurde sie nur noch von vier Menschen
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