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Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Titel: Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
Autoren: Marianne Reuther
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Teil 1
    „Es ist was faul im Lande Hessen“, folgerte der Rhein-Main-Bote am Schluss seines Artikels „Vom Erdboden verschluckt“. Zu Recht. Die Zahl der als vermisst gemeldeten Personen hatte eine eklatante Höhe erreicht. Der Autor tippte auf eine Aussteigerepidemie, schloss aber auch eine Entführungsserie nicht aus. Das versetzte Edmund Konrad, Lehrer an der Hellmann-Schule, erneut in Unruhe. Sie galt einem seiner Schüler, Gerd Schäfer. Der wurde seit Ostern vermisst. Am Ende war die Annahme, dass der Junge ausgerissen war, völlig falsch.
    Nachdenklich faltete er die Zeitung zusammen. Es war kurz nach der letzten Unterrichtsstunde und das Klassenzimmer von knisternder Anspannung erfüllt. Konrad blickte besorgt auf die Häupter der fünf, die nicht wie die anderen ihre Arbeitshefte abgeliefert und das Klassenzimmer verlassen hatten, sondern noch emsig mit Dreieck und Zirkel hantierten. Er durchblätterte fahrig das abgegriffene Büchlein aus der Schublade des Lehrerpults. „.Sternstunden der Menschheit“ von Stefan Zweig. Ein vergilbter Zeitungsausschnitt diente offenbar jemandem als Lesezeichen zur Erzählung „Die Weltminute von Waterloo“. Bei dem Ausschnitt handelte es sich um eine Leserzuschrift – die Anfangszeile war unleserlich –, und ehe Konrad es sich versah, hatte er sich in den Text vertieft und las staunend:
     
    .. diese innere Emigration ist längst eine Tatsache und ein deutsches Nationalerbe. Der verbohrte und seltsam dilettantische Aufklärungsgeist der deutschen Intellektuellen folgt seit den Tagen von 1848 einem barbarischen Selbsthaß, der sich seit den Zeiten des Tacitus mit römischem Recht lateinischer Logik schwertut. Gesinnung hatte stets Vorzug. Wir haben in den Grünen geradezu Musterbeispiele des alten deutschen Kopfsalats, der in allen historischen Verwandlungen Deutschland so unerträglich macht. So kann man, was die innere Emigration betrifft, davon ausgehen, dass in Tausenden Tagebüchern ausgesprochen wird, was in diesem Land unausdruckbar und unaussprechbar ist …
     
    Konrad unterbrach die Lektüre und sagte nach einem Blick auf seine Armbanduhr: „Noch zwei Minuten!“
    Mehr Zeit durfte er nicht zugeben, so gern er es getan hätte. Es war verrückt, seine Zeit als Schüler lag Jahre zurück und doch fühlte er sich immer wieder in die Lage seiner Elf hineinversetzt, wenn sie über einer Mathematikarbeit brütete. Dabei überkam ihn das gleiche klamme Gefühl von damals, als säße er unter ihnen und nicht hinter dem Katheder.
    Schließlich legte auch der Letzte, Hans Scholz, sein Arbeitsheft auf den Stapel und sagte „Auf Wiedersehen“, ohne aufzublicken. Er war also wieder einmal nicht fertig geworden. Der leicht untersetzte und immer griesgrämig dreinschauende Junge arbeitete fehlerfrei, doch viel zu langsam. Edmund teilte den Packen Arbeitshefte in zwei Hälften und steckte sie nebeneinander in seine Mappe. Ein Wochenende am Schreibtisch stand bevor, nicht eben zur Freude seiner Angetrauten, die immer für ein volles Programm sorgte. Allerdings blieben sie derzeit ohnehin meist zu Hause, denn Lydia hatte sich beim Skiurlaub in den Osterferien den linken Unterschenkel gebrochen und ihr Bein war in Gips.
    An der Windschutzscheibe steckte ein Werbeflyer des Brautausstatters Maybloom. In Edmunds Hinterkopf klingelten Hochzeitsglocken. Brautkleid – Hochzeit – heute war ihr fünfter Hochzeitstag! Rosen. Rosen mussten her! Dabei war er so schon spät dran und Lydia wartete mit dem Essen auf ihn. Er rief sie an.
    „Heute ist Markttag am Uhrtürmchen. Brauchst du was, soll ich was mitbringen?“
    „Nein, Schatz“, antwortete Lydia aufgeräumt, „hier fehlt nichts, nur du!“
    „Das ändert sich gleich – ich muss nur erst noch tanken.“
    Die Notlüge verschaffte ihm Zeit für seine Besorgung. Dankerfüllt küsste er die Braut auf dem Prospekt, ehe er das Blatt zerknüllte, in die Abfalltüte steckte und losfuhr. Die Blumenboutique vor dem Hauptfriedhof lag seiner Wohnung am nächsten. Vor dem Friedhofstor hielten zwei mahnend in die Welt blickende, kräftige Damen in Lodenmänteln den Wachtturm in die Höhe. Sie verzogen keine Miene und sie schwiegen, ganz im Gegenteil zu dem jungen Kerl mit dem Zottelkopf, der den Passanten bunt bedruckte Blätter aufnötigte und unentwegt rief: „Wehret den Anfängen!“
    Edmund schob den Zettel in seine Jackentasche und ging in den Laden. Die freundliche Blonde, die hier meistens bediente, war heute nicht hinter der
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