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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr
Autoren: C Geraghty
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Prolog

    Spanien, April 2004
     
    Das Wetter ist umgeschlagen.
    Es ist immer noch heiß, aber jetzt weht ein Wind, der Röcke anhebt und Gläser klirrend über die Tische wandern lässt. Im Lauf des Tages wird die Hitze drückend. Selbst der Wind ist heute heiß. Wie Luft, die vor Ladenfronten hochgeblasen wird. Später setzt der Regen ein, und es regnet Bindfäden.
    Es ist nachmittags um halb fünf.
    Wir vier begeben uns zu der Bar, die seit unserer Ankunft unser Stammlokal ist. Drinnen ist es dunkel, und es duftet nach dem luftgetrockneten Schinken, der an Haken über der Theke hängt. Mit unserem Bier und den Schalen mit Oliven setzen wie uns nach draußen in den spärlichen Schatten unter der Markise, die durchhängt und im Wind auf und ab flattert. Wir trinken zu viel Bier, eins nach dem anderen, und werden es schnell müde, uns zur Theke durchzuschlagen. Wir wechseln zu Weißwein, den wir flaschenweise bestellen und aus hohen Gläsern trinken, bis zum Rand mit Eis gefüllt. Die Essenszeit kommt und geht. Wir begnügen uns mit Nüssen und fade schmeckenden Kartoffelchips, die wir mit einer dicken Schicht Salz bestreuen.
    Die Sperrstunde wird unbürokratisch gehandhabt. Der Barmann, klein und still, kommt heraus, schließt die Tür
ab und nickt uns im Weggehen zu. Er pfeift eine Melodie vor sich hin, die ich nicht erkenne.
    Wir gehen über den Strand zum Apartment zurück. Der Wind peitscht die Wellen auf, und sie donnern und krachen auf den Sand, der so gelb ist wie Senf. Wir singen Lieder und rempeln einander torkelnd an, das Tosen des Ozeans verschluckt unser Gelächter. Das Meer ist wild und aufgewühlt, es fordert mich heraus. Mir ist heiß, und ich weiß, dass das Wasser kühl sein wird. Bevor irgendjemand auch nur bemerkt, dass ich weg bin, habe ich mein Kleid schon über den Kopf gezogen und in den Sand geworfen. Meine Sandalen landen ebenfalls im Sand, und ich laufe auf das weiße Licht der Wellen zu. Ich kann hören, wie sie hinter mir herrufen, aber ich lache nur. Der Wind braust um meinen Kopf, und ihre Stimmen klingen jetzt weit entfernt, wie Echos. Ich stehe an der Strandlinie, die Arme ausgebreitet, und das Wasser tost um meine Füße. Es schlängelt sich meine Oberschenkel hoch, dann kommt die erste Welle. Sie steigt vor mir auf. Eine dunkle Wand. Ich spüre, wie sie an mir saugt und zerrt, mich hinausträgt, wo ich nicht mehr stehen kann. Der Strand scheint nun sehr weit entfernt. Ich kann die anderen nicht mehr sehen. Meine Schreie gehen im Tosen des Meeres unter.
    Ich schwimme auf die Küste zu, bin bald erschöpft und komme doch nicht vom Fleck. Panik überfällt mich, ich öffne den Mund, und Wasser schwappt hinein. Ich huste und verschlucke mich, muss würgen vom Salz.
    Unter Wasser lässt sich nur schwer erkennen, wo oben ist.
    Dann legen sich Arme um mich und ziehen mich hoch. Ich tauche wieder auf, atme, als wäre es das erste Mal.
    »Alles in Ordnung. Es geht dir gut, ich hab dich.« Patricks Stimme ist nah, und ich greife mit beiden Händen nach ihm.

    »In die Richtung«, sagt er. »Schwimm in die Richtung. So kräftig, wie du nur kannst.« Ich kann seine Worte verstehen, aber ich sehe ihn nicht in dieser wässrigen Dunkelheit. Seine Hände unter meinen Armen fühlen sich hart an, beruhigend. Sein Atem geht unregelmäßig, stoßweise. Ich beuge meinen Kopf und stemme mich gegen das Wasser, strampelnd und mit steifen Beinen.
    Ich weiß nicht, wann seine Hände mich verlassen haben. Ich bin fast da und kann am Strand zwei schemenhafte Gestalten ausmachen. Eine Welle hebt mich hoch und wirft mich auf den Sand, wo ich keuchend und hustend liegen bleibe. Warme Hände berühren mich. Jemand weint. Langsam hebe ich meinen Kopf.
    Neben mir sehe ich den Schuh aus rotem Segeltuch. Die Schnürsenkel sind zugebunden.
    »Wo ist er?«, frage ich mit krächzender Stimme. Mühsam rappele ich mich hoch.
    »Er war da, direkt neben dir. Ich habe seine Hand gesehen. Gerade eben noch.« Wir drei waten ins Meer, aber die Wellen sind so hoch, noch stärker als vorher, sie drängen uns zurück. Wir rufen, bis wir heiser sind.
    »Seid still!«, schreie ich sie plötzlich an. »Horcht!« Wir lauschen angestrengt aufs Meer hinaus, alle drei, mit angehaltenem Atem.
    In der hereinbrechenden Dunkelheit steigen und fallen die weißen Wellen an der Küste wie Geister. Weiter draußen, dort wo die See zum Horizont hin schwärzer wird, ist das Wasser ruhig – wie ein Grab.

1
    März 2005
     
    Es begann alles mit einer
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