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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch
Autoren: Andreas Gößling
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    E
rst hinter der letzten Wegbiegung
kam das Gehöft in Sicht und wie jedes Mal schlug Amos’ Herz bei diesem Anblick schneller: das verwinkelte hölzerne Haupthaus, an das sich links ein baufälliger Stall, rechts der wacklig umzäunte Garten anschloss. Das gesamte bescheidene Anwesen lag in einer Senke, u-förmig umflossen vom Gründleinsbach, den seinerseits Schilf und Weiden säumten. Früher einmal hatte der Bach hier ein Mühlrad angetrieben, doch schon als Valentin Kronus vor mehr als dreißig Jahren den Hof von den Edlen von Hohenstein gepachtet hatte, war die Mühle nicht mehr in Betrieb gewesen. Und seither hatte der gelehrte Einsiedler die Stuben und Kammern mit Büchern und Schriftrollen gefüllt und die einstige Mühle in eine kostbare Bibliothek verwandelt.
    Wie jedes Mal, wenn Amos das Innere des murmelnden, glucksenden U betrat, kam es ihm vor, als ob er in einen Strom aus Bildern, Farben, gewisperten Geschichten eintauchte. Wohl eine Stunde lang war er durchs Tannenholz bis hierher gerannt, beunruhigt durch den Gedanken, dass Onkel Heribert neuerlich versuchen könnte, ihm den Umgang mit Kronus zu verbieten. Nun aber, während er mit dem rostigen Klopfer gegen die Haustür schlug, kam ihm seine Sorge lächerlich vor: Wenn Kronus es nicht zuließ, konnte Ritter Heribert von Hohenstein sie niemals voneinander trennen. Und obwohl die Dienste eines fünfzehnjährigen Jungen für den Gelehrten kaum besonders wertvoll sein konnten, spürte Amos doch deutlich, dass der alte Mann ihn mochte und schätzte.
    »Komm herein, es ist offen«, erklang Kronus’ leise, aber kräftige Stimme.
    Amos trat ein. Die Haustür führte direkt in die einstige Wohnstube, die dem Schriftgelehrten als Schreib- und Lesezimmer diente. Über die Wände zogen sich Regale bis zur Decke, dicht gefüllt mit Büchern, Schriftrollen, Papierstapeln. Mitten in derStube erhob sich das wuchtige Stehpult, hinter dem Kronus sein halbes Leben verbracht hatte. Es war aus glänzend schwarzem Holz gefertigt und hatte die Umrisse eines aufrecht stehenden, halbwegs aufgeschlagenen Buchs. Seine Vorderseite war mit goldfarbenen Intarsien übersät, die wie Schriftzeichen aussahen, wenngleich Amos nicht eines von ihnen entziffern konnte. Auch jetzt stand der alte Mann hinter der schrägen Pultfläche, mit der Feder in der Hand über sein Manuskript gebeugt.
    »Diese Kerle wollten dich zurückhalten, aber du hast dich durchgesetzt.« Kronus legte die Feder zur Seite, trat hinter seinem Pult hervor und kam mit raschen Schritten auf ihn zu. Er war kaum größer als Amos, seine Gestalt unter dem weiten schwarzen Umhang gebeugt und schmal. Sein Gesicht war mit Falten überzogen, sein Haar noch voll, aber funkelnd grau. Dennoch wirkte er seltsam alterslos, vielleicht wegen seiner hellblauen Augen, deren Blick klar und leuchtend war. »Gut gemacht, Junge.« Valentin Kronus legte seine Hände auf Amos’ Unterarme und zog ihn kurz an sich. »Sei mir gegrüßt, Amos von Hohenstein.«
    Seine Berührung war federleicht. Gleich schon schob er Amos wieder von sich weg, hielt ihn aber einen Moment lang noch fest und sah ihn aufmerksam, mit einem kaum merklichen Lächeln, an. »Komme mir bloß nicht wieder damit, dass ich angeblich hellseherische Kräfte hätte. Ich habe nur in deinem Gesicht gelesen, dass dein Onkel dich nicht mehr zu mir lassen wollte.«
    »Er hat sich nicht einmal getraut, es mir selbst zu sagen. Stattdessen hat er seinen Hauptmann vorgeschickt.« Amos schüttelte den Kopf. »Aber ich habe gleich gespürt, dass Ihr es nicht zulassen würdet.«
    »Auf gar keinen Fall. Nicht, solange ich am Leben bin – und mein Werk unvollendet ist.« Der alte Mann wandte sich wieder zu seinem Manuskript um und winkte Amos, ihm hinter sein Schreib- und Lesepult zu folgen.
    Auch Amos musste lächeln. »Wie wunderbar, Herr, wieder bei Euch zu sein.«
    Neben dem Gelehrten trat er zwischen die aufgeschlagenen Hälften des riesenhaften Buchs. Es war das sonderbarste Möbelstück, das er jemals gesehen hatte. Nicht anders als die äußere Schauseite war auch die Pultfläche im Innern mit geheimnisvollen Zeichen bedeckt. Ein Blatt Papier lag darauf, zur Hälfte mit Kronus’ gleichmäßiger Schrift bedeckt und umlagert von Federkielen, Tintenfässchen und den Gegenständen, die der weise Mann stets um sich hatte: dem elfenbeinernen Totenkopf, der am oberen Pultrand befestigt und so groß wie Amos’ Faust war, dem vergoldeten Mistelzweig und dem silbernen
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