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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch
Autoren: Andreas Gößling
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der Wandlungen gezeigt, eine stark vergilbte und zerfledderte Schriftrolle, die vor mehr als tausend Jahren von einem hellsichtigen Araber angefertigt worden war. Der Mann war aus heiterem Himmel zum Gefäß übermächtiger Gesichte und Gesänge geworden, die in mehrere Monate dauerndem Strom auf ihn herniedergingen. Anfangs hatte er sich gegen seine Aufgabe gesträubt, denn bis dahin war er weder ein Priester noch ein Dichter gewesen, sondern hatte das Leben eines einfachen Ratsschreibers geführt. Nachdem er den Gesang der Wandlungen empfangen und niedergeschrieben hatte, verließen ihn die Visionen wieder und er kehrte erleichtert zu seinem früheren Leben zurück.
    Jedes Mal, wenn Amos den einstigen Mühlhof aufsuchte, fragte er den alten Mann, was es mit seinem
Buch der Geister
auf sich hatte – und beinahe jedes Mal gebrauchte Kronus andere Bilder und Umschreibungen. Beinahe so wie Hauptmann Höttsche, der jedes Mal eine andere Geschichte zum Besten gab, wenn man ihn nach der Herkunft des Narben-X auf seiner Stirn fragte.
    Das Buch, an dem er schreibe, so hatte Kronus ihm beispielsweise erklärt, »ist wie ein magisches Elixier. Denn es wird die Essenz aller magischen und visionären Schriften, aller Mythen und Epen enthalten, die es wert sind, der Nachwelt überliefert zu werden. Wer also
Das Buch der Geister
vollständig in sich aufgenommen hat, wird die Macht eines Magiers besitzen. Dabei wird es keinerlei Zauberformeln enthalten. Keine Zwingsprüche, keine Rezepte für Pulver oder Dämpfe, mit denen man Dämonen herbeirufen oder Dreck in Gold verwandeln kann.«
    Erst vor wenigen Wochen hatte ihm der alte Gelehrte erstmals angedeutet, worin zumindest ein Teil dieser magischen Wirkung bestand. »Alle Menschen, die die erste Geschichte im
Buch der Geister
vollkommen in sich aufgenommen haben«, hatte er erklärt, »werden imstande sein, auch über große Entfernungen hinweg mit jedem anderen Menschen in Verbindung zu treten, der sich diese erste Geschichte gleichfalls angeeignet hat. Der Titel dieser ersten Geschichte lautet:
Vom Ritter, der seine Liebste hinter dem Spiegel fand
. Und mit jeder weiteren Geschichte aus dem
Buch der Geister
, die der Leser vollständig verinnerlicht hat, werden auch seine magischen Kräfte noch weiter steigen.« All das war so sonderbar und rätselhaft, dass Amos sich manchmal fragte, ob der alte Mann vielleicht den Verstand verloren hatte oder ihn ganz einfach zum Narren hielt. Aber gleichzeitig spürte er in seinem tiefsten Herzen, dass weder das eine noch das andere zutraf: Valentin Kronus besaß übernatürliche Kräfte, und jeder, der es verstand, sein
Buch der Geister
gänzlich zu durchdringen, würde gleichfalls magische Kräfte erlangen.
    In der Woche darauf, als Amos ihn aufs Neue aufgesucht hatte, hatte er all seinen Mut zusammengenommen und Kronus gefragt, ob er selbst denn eines Tages im
Buch der Geister
lesen dürfe. Kronus hatte ihm mit einem begütigenden Lächeln seine federleichte Hand auf die Schulter gelegt. »Noch ist der Zeitpunkt nicht gekommen – mein Buch ist noch nicht weit genug fortgeschritten, und dein Geist desgleichen. Aber hab Geduld, Amos: Wir sind beide auf gutem Weg.«
    Heute jedoch gab sich Kronus ungewohnt einsilbig. Ohne ein erklärendes Wort zog er die Schranktür auf, nahm einen Umschlag heraus und riegelte gleich wieder zu. Er wandte sich wieder um, machte einen halben Schritt auf Amos zu und sah dann sinnend zu Boden. Anscheinend hatten ihn Zweifel befallen, ob Amos der Aufgabe gewachsen wäre. Doch im nächsten Augenblick gab er sich einen Ruck und drückte ihm mit einer energischen Bewegung das Kuvert in die Hand.
    »Diesen Brief«, rief er gegen das Tosen des Bachs an, »bringe für mich nach Nürnberg. Mach dich sofort auf den Weg, Amos, die Sache eilt sehr. In der Druckerei Koberger unweit der Fürstenburg arbeitet ein Setzer namens Hebedank. Ihm übergib diesen Umschlag – und vergiss niemals: Sein Inhalt ist einzig und allein für Hebedank bestimmt. Vertraue den Brief niemand anderem an. Hebedank wird übermorgen von drei bis vier Uhr nachmittags am Hintereingang der Druckerei auf dich warten. Hast du alles richtig verstanden?«
    Amos bejahte, obwohl in seinem Kopf alles durcheinanderging. Nie zuvor war er eine so gewaltige Strecke gereist – bis Nürnberg mussten es an die hundert Meilen sein. Um in zwei Tagen am Ziel zu sein, müsste er beinahe Tag und Nacht reiten. Damit der Umschlag nicht in falsche Hände geraten konnte,
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