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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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beweisen, daß sie alles über den Vertrieb von Medikamenten wußten und ich gar nichts. Ich war stolz auf mich. Für die Tochter einer zweimal geschiedenen Kellnerin, die ihr Leben lang in Bahnhofskneipen bedient hat, war das ein steiler Aufstieg. Ich war angekommen.
    Als Ärztin in der Industrie wollte ich etwas von Betriebswirtschaft verstehen, also meldete ich mich für ein Kostenrechnungsseminar an. Ich stellte schnell fest, daß die mehrstufige Deckungsbeitragsrechnung nicht mein Metier war. Wenn ich während des Seminars überhaupt etwas verstand, dann wegen des Seminarleiters, der mich begeisterte.
    1980 war Michael dreißig Jahre alt. Kurz zuvor war er Partner bei der Saarländischen Treuhandgesellschaft geworden. Er hatte sein Steuerberaterexamen abgelegt, einen Lehrauftrag an der Fachhochschule übernommen und leitete die Saarbrücker Wirtschaftsjunioren. Damals war er oft in der Zeitung, und in der kleinen Wirtschaft des Saarlandes, wo jeder jeden kennt, galt er als der kommende Mann. Er sah nicht unbedingt großartig aus; er hatte damals bereits Bauch und Glatze, aber da er zwei Meter groß war, fiel das kaum auf. Was mir auffiel, waren seine klare Denkweise, sein Faktenwissen, das er in druckreifen Sätzen von sich gab, seine Intelligenz und sein sarkastischer Humor.
    Ich war zu jener Zeit mit Jean-Yves befreundet, einem französischen Germanisten, der seit fünfzehn Jahren am Promovieren war. Jean-Yves sah aus wie der junge Alain Delon; er war zart, intellektuell und verletzlich. Er sang Chansons und spielte Gitarre, rezitierte Verlaine und Rimbaud, schrieb Theaterstücke und gab Kurse an der Volkshochschule. Aber er verdiente mit seinen achtunddreißig Jahren keine zwanzigtausend Mark im Jahr, und es sah nicht so aus, als ob er jemals eine Zweizimmerwohnung besitzen oder auch nur ein vernünftiges Auto fahren würde. Wenn ich dann noch daran denke, daß er mit jedem Rock, der in seinen Stücken mitspielte, ins Bett mußte, dann hätte mir damals schon klar sein müssen, daß Jean-Yves nicht der Mann fürs Leben war.
    So richtig bewußt wurde mir das aber erst, als mich Michael zum Abendessen einlud. Michael war aus einem anderen Holz geschnitzt. Er war auf altmodische Weise charmant, und das gefiel mir. Er hatte einen Tisch vorbestellt, nahm mir den Mantel ab, er kannte sich mit Weinen und französischem Essen aus, und er hatte klare Vorstellungen von seiner Zukunft. In einigen Stunden entwarf er, übersprudelnd vor Begeisterung und schierer Freude am Dasein, strotzend vor Kraft, Elan und Ehrgeiz, eine Zwanzigjahresplanung seines Lebens, die mich erstaunte, verwirrte und belustigte. Ein Haus würde er bauen, die Zinsen seien niedrig, jetzt wäre die Zeit, ein Grundstück zu kaufen. Im nächsten Jahr würde er Partner bei einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft werden und nach einigen Jahren dann seine eigene Kanzlei gründen. Die Wirtschaftsprüfung sei ein Wachstumsmarkt, gerade in Saarbrücken, wo sich durch die EU und die Nähe zu Frankreich eine Menge internationaler Unternehmen angesiedelt hätten, die alle geprüft werden müßten. Die Nachfrage nach Leuten wie ihm - und natürlich auch deren Honorare - würde in den nächsten Jahren disproportional steigen. Michael war ein Mensch, der Worte aussprach, die andere allenfalls schreiben.
    Ich war starr vor Bewunderung. Das war der erste Mann in meinem Leben, der nicht nur über die Zukunft nachdachte, sondern Mut und Willen besaß, sie zu gestalten. Nicht ohne Herzklopfen fragte ich ihn, ob denn die richtige Partnerin in dieser Planung auch irgendwo vorkäme. Und ich weiß bis heute, was er antwortete: „Die Wirtschaft ist nichts anderes als ein bißchen Mathematik, etwas Keynes, etwas Friedman und obendrauf zehn Prozent Intuition. Bei der richtigen Partnerin aber ist alles Intuition und fast gar nichts Mathematik, und das ist das Schwierige daran.“
    Als er mich vor meiner Wohnung absetzte, war ich zwar nicht Hals über Kopf in ihn verliebt, aber ich fand ihn ausgesprochen sympathisch.
    Dann hörte ich zwei Monate nichts mehr von ihm. Als er sich wieder meldete, war er müde, promoviert, glücklich und anscheinend bereit für eine Frau. Er lud mich zum Tanzen ein, und an diesem zweiten Abend verliebte ich mich wirklich und ernsthaft in Michael. Das war der erste Mann, der mir zuhörte und mich als Frau ernstnahm. Ich erzählte ihm von Jean-Yves und mir, von den Ehescheidungen meiner Mutter, ihrer Tablettensucht, ihren jährlich
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