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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond
Autoren: Wäis Kiani
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    D er Rücksitz war aus karamellfarbenem Leder, und das Leder war neu. Der Rücksitz war glatt und hart. Seit fast einer Woche saß ich jetzt dort und beobach tete die beiden von hinten. Immer saß mein Vater am Steuer, meine Mutter natürlich nie, obwohl sie Auto fahren konnte. So war sie nun mal.
    Wir mussten jetzt schon seit zwei Tagen auf holprigen Landstraßen mit riesigen Löchern fahren. Erst quer durch Jugoslawien von oben nach unten, dann durch Bulgarien, und jetzt fuhren wir durch so kleine, türkische Dörfer in Aserbaidschan in Richtung der persischen Grenze. Die Entscheidung, Landstraße zu fahren, war nicht aus nostalgischen Gründen gefallen, sondern weil die alle einfach keine Autobahnen gebaut hatten. Lauter Länder ohne Autobahnen, total verrückt. Die Straßen, die uns jetzt durch die türkischen Dörfer führten, waren auch eher so breite Schotterwege. Mein Vater jammerte ständig und fluchte laut bei jedem kleinen Steinchen, das gegen den nagelneuen, dunkelgrünen Lack seines ebenso nagelneuen Volvo 144 Grand Luxe sprang. Und jedes Mal, wenn wir ein Dorf erreichten, standen haufenweise kleine Jungs in dreckigen Schlafanzughosen auf beiden Seiten der Dorfstraße Spalier und bewarfen unser Auto mit noch mehr kleinen Steinen. Das machte meinen Vater fertig. Er hatte den Volvo zwei Wochen vor unserer Abreise direkt ab Werk aus Stockholm abgeholt. Meine Mutter und ich hatten ihn in Travemünde am Hafen getroffen, wo er in dem neuen Auto mit blitzenden Chromfelgen langsam aus dem Bauch der Fähre gerollt kam und wir uns stolz zu ihm ins Auto setzten. Jetzt waren die Chromfelgen mit einer dicken Schicht hellgrauem Lehm bedeckt, und das ganze Auto war überhaupt nicht mehr das, was es in Travemünde noch gewesen war. Und ständigen Steinbombardements ausgesetzt. Ich fragte mich, woher die Jungs wussten, dass wir kommen würden. Oder ob sie immer am Straßenrand standen, um jedes Auto zu bewerfen, das durch den Ort fuhr. Wussten ihre Eltern davon? Und warum hatten sie alle Schlafanzughosen an?
    »Warum haben die alle keine richtigen Hosen an, Papa?«
    Er lachte: »Weil das so ist auf dem Land in der Türkei. Bei uns ist das auch so. Die Landbevölkerung trägt diese weiten Schlafanzughosen. Du wirst sehen.«
    Ich drückte mich zurück in das kalte, karamellfarbene Leder und machte mir wieder Sorgen darüber, was mich außer Schlafanzughosen an unserem Ziel erwarten würde. Es war 1974. Ich war neun Jahre alt.

    Mein Name ist Leily, das ist der Name einer Frau aus der alten persischen Literatur. Leily war der weibliche Teil eines Liebespaares, Leily und Madjnun waren tierisch verknallt ineinander, und die Sache ging irgendwie schlecht aus. Meine Mutter hat das Buch mit der Geschichte über die beiden gelesen, während sie mit mir schwanger war, und sofort gewusst, dass ich Leily heißen sollte, obwohl mein Vater sich einen Jungen gewünscht hatte und auch schon einen Namen für seinen Sohn hatte: Cyrus, der Sonnenkönig. Jetzt war ich da, die Sonnenkönigin, Sternzeichen Löwe und mitten im August geboren. Meinem Vater war es recht, er switchte einfach um, machte mich zu seinem kleinen Sohn, und weil ich das lei noch nicht sprechen konnte und mich selbst immer Li-Li rief, nannten sie mich Lilly. Später riefen mir ältere Kinder nach: Da ist ja Lila! Hey, Lila!, und ich drehte mich dann um und rief: Selber Lila, ihr Blödmänner!
    Meine Kindheit war bis dahin ganz okay gelaufen, jeden falls empfand ich es damals so. Wir lebten weit oben in Norddeutschland, in einem Kaff in Ostfriesland, in der Nähe von Bremen und nicht weit vom Meer und den Möwen. Weite Wiesen, zufriedene Kühe und gefährliche Moore, so weit das Auge reichte. Bauern, die einen auf Plattdeutsch anbrüllten, wenn man ihre Äpfel klaute. Und überall Kinder, die ganze Siedlung, in der wir lebten, schien fast nur aus Kindern zu bestehen. Deshalb hatte man alles so gebaut, dass wir Kinder es gut hatten und wir cool spielen konnten. Hinter unserem Haus waren zudem herrliche Zuggleise, an denen man sich unter Lebensgefahr herumtreiben konnte. Nachmittags waren immer alle Kinder der Siedlung draußen, und man spielte zusammen, solange, bis es dunkel wurde, sich jemand ernsthaft wehtat oder es Streit gab. Dann bildeten sich Parteien, und wir kämpften miteinander und gegeneinander, rotteten uns zusammen, bildeten Armeen, jagten uns bis zur totalen Erschöpfung und suchten neue Verstecke in Höhlen und Scheunen. Wir hatten eine Batterie von
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