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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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zuzugeben.
    Würde Florian noch leben, dann könnte ich Michaels Vorwürfe vielleicht noch verstehen. Aber Florian ist vor zehn Jahren verschleppt, mißbraucht und ermordet worden. Und auch an Florians Tod gibt Michael mir eine Mitschuld, denn an dem Tag, als unser Junge nicht mehr von der Schule zurückkam, war Michael weit weg von Saarbrücken. Wäre er zu Hause gewesen, dann wäre Florian vielleicht noch gefunden worden, denn Michael hätte beherzter, rascher, energischer gehandelt als ich; er wäre früher zur Polizei gegangen, hätte über seine Beziehungen Druck ausgeübt, und dann wäre Nicolai vielleicht noch …? Ja, was eigentlich? Ich weiß es nicht, und Michael weiß es auch nicht, auch wenn er sich das nie eingesteht. In Wirklichkeit weiß keiner von uns beiden überhaupt noch irgend etwas.
    Seit Florians Tod besteht unser ganzes Leben nur noch aus diesen Was-wäre-wenn-Fragen. Irrealis nannte man das im Lateinunterricht, und genauso irreal ist auch unser Leben geworden. Denn obwohl Michael und ich nach außen hin wie zwei ganz normale Menschen wirken, unsere Steuern zahlen und die Vorschriften und Gesetze dieses vermeintlichen Rechtsstaates befolgen, so sind wir doch seit zehn Jahren nichts anderes mehr als leere Hüllen, Scheinexistenzen, Lemuren, deren Leben nichts anderes darstellt als das sinnlose Durchexerzieren immer gleicher Rituale.
    Warum? frage ich mich jeden Tag. Warum wir? Warum Florian? Was haben ein gehbehinderter Junge und zwei Menschen aus einfachen Verhältnissen, die keine anderen Ziele im Leben hatten, als zu arbeiten, Geld zu verdienen und ihr Leben zu genießen, eigentlich verbrochen, daß sie aus der Mitte dieses Lebens heraus in den tiefsten Kreis der Hölle gestürzt werden, jenen Kreis, den unsere Religion, so zumindest haben sie mir es als Kind erzählt, den schlimmsten Verbrechern vorbehalten hat?
***
    Und dabei hatte alles einmal so schön begonnen. In den ersten Monaten war ich sehr verliebt in Michael. Er war intelligent, gebildet, zielstrebig und dabei auch noch witzig und erfolgreich. Irgendwie genau der Typ, auf den ich immer gewartet hatte, der mir bloß nie über den Weg gelaufen war. Ich weiß bis heute nicht, ob er mich jemals wirklich geliebt hat - oder ob in seinem Lebensplan damals gerade Heiraten dran war. Besonders zärtlich wirkte er schon zu Anfang nicht, und später gab er sich keine Mühe mehr, Gefühle vorzutäuschen, die er nicht hatte. In dieser einen Hinsicht ist er ehrlich: ob es Zorn, Haß, Wut oder Begeisterung ist - Michael muß immer der ganzen Welt mitteilen, in welcher Stimmung er sich gerade befindet. Als ich ihn besser kannte, habe ich mich oft gefragt, wie es ihm gelungen ist, beruflich so weit nach oben zu kommen, hat er doch weder Vorgesetzte noch Kunden noch Kollegen mit seiner schneidenden Kritik, seinen cholerischen Ausbrüchen und seinen unbedingten Überzeugungen verschont. Aber es muß wohl an seiner intellektuellen Brillanz liegen. Denn Michael versteht nicht nur etwas von Wirtschaft und Politik, nein, er spricht auch noch fünf Sprachen, spielt Rock-Piano und kann einer Putzfrau den Unterschied zwischen Inflation und Deflation erklären. Und mit diesen Fähigkeiten hat er mich ja auch herumgekriegt.
    Kennengelernt haben wir uns bei einem Seminar zur Einführung in die Kostenrechnung. Das war im März 1980. Zwei Monate vorher hatte ich bei einem französischen Pharmaunternehmen angefangen, das seine deutsche Niederlassung nach Saarbrücken verlegt hatte. Ich bin Ärztin. Nach fünf Jahren am Krankenhaus bin ich in die Pharmaindustrie gegangen. Marketing und Vertrieb, die Welt der Manager und Konzerne fand ich interessanter als die Aussicht auf weitere fünf Jahre schlechtbezahlter Nachtschichten am städtischen Klinikum.
    Ich habe in Lyon Medizin studiert und konnte einmal so gut Französisch, daß Franzosen mich fragten, woher aus Frankreich ich genau stammte. Deshalb hatte ich von Anfang an geplant, einmal für ein französisches Unternehmen zu arbeiten, und meine Rechnung ging auf : Les Laboratoires Garnier nahmen mich mit Kußhand. Mein Französisch war so gut, daß ich mit dem aus Paris angereisten Abteilungsdirektor gar nicht erst ins Bett mußte, nein, ich wurde schon beim Essen vom Fleck weg engagiert. Ich hatte mich als Pharmavertreterin beworben und wurde als Vertriebsleiterin für Südwestdeutschland eingestellt. Ich leitete ein Team von vier Pharmareferenten, alles Männer, alle älter als ich und alle hungrig, mir zu
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