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Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala
Autoren: Michael Peinkofer
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PROLOG
     
    N EW O RLEANS
    V EREINIGTE S TAATEN VON A MERIKA
    J ULI 1853
     
    Er konnte die grässlichen Laute hören, die durch die schwüle Nacht hallten.
    Die Schreie der Sterbenden.
    Das Wehklagen der Trauernden.
    Und den dumpfen Klang der Totenglocke.
    Keine Stunde verging, in der sie nicht geläutet wurde. Ihr schauriger Ton war zum ständigen Begleiter geworden, der die Bewohner von New Orleans unablässig daran erinnerte, dass das Ende nahe war.
    Lemont setzte einen Schritt vor den anderen. Er achtete weder auf die Schreie, die aus den Häusern drangen, noch auf die dunklen Gestalten, die hin und wieder an ihm vorüberhuschten und sich feuchte Tücher vor die Gesichter geschlagen hatten, um sich vor dem allgegenwärtigen, durchdringenden Gestank zu schützen, der wie ein Leichentuch über der Stadt lag.
    Das Gelbfieber grassierte.
    Und es schlug unbarmherzig zu.
    Als es Anfang Juli die ersten Todesopfer zu beklagen gegeben hatte, war man in New Orleans noch guter Dinge gewesen und hatte gehofft, dass »Yellow Jack« die Stadt diesmal weitgehend verschonen würde. Schon Mitte des Monats war die Zahl der Todesopfer jedoch auf über tausend angewachsen - und bereits wenige Tage später war zur grausigen Gewissheit geworden, dass die Geißel des Südens New Orleans einmal mehr in den Klauen hatte.
    Lemont kannte die Symptome nur zu gut.
    Es fing immer mit heftigem Kopfschmerz und Fieber an, dem oftmals eine Rötung des Gesichts folgte. Der Ausfluss von Sekret und das darauf folgende Delirium sowie die gelblichen Flecken, die den Körper des Befallenen übersäten und der Seuche ihren Namen gaben, ließen innerhalb weniger Tage keinen Zweifel mehr daran, dass Yellow Jack zugeschlagen hatte. Trat in diesem Stadium keine Besserung ein, so war jede Hoffnung verloren. Die Haut wurde fahl, die Lippen wirkten blutleer, Verzweiflung sprach aus den Augen. Wenn schließlich blutiger Schaum aus den Mundwinkeln der Opfer trat, war der Tod nur noch eine Frage von Stunden ...
    Dunkelheit herrschte in den Straßen.
    Die Laternen wurden nicht mehr entfacht, aus den Häusern drang kein Licht. Die Läden und Jalousien waren geschlossen, manche Fenster gar mit Holzbrettern verbarrikadiert worden, damit niemand hineinsehen konnte. In diesen Tagen genügte oftmals schon der Anblick einer warmen Mahlzeit, um einen Raub zu provozieren. Und da sich die Gesetzeshüter vor Ansteckung fürchteten, herrschte Anarchie in der Stadt. Nur jene, die Hunger und Not aus ihren Häusern trieben, waren auf den finsteren Gassen anzutreffen - bis zur Unkenntlichkeit vermummte Schatten, die an Lemont vorüberhuschten. Jene, die ihr Vermögen mit Baumwolle und Zuckerrohr gemacht und sich kleine Königreiche erworben hatten, verschanzten sich in ihren vier Wänden, gaben sich rauschenden Festen und ausgiebigen Gelagen hin und betrogen sich mit der Illusion, sich von der Seuche loskaufen zu können. Die Wahrheit - dass die Stadt am Abgrund stand und dass die prunkvollen Bälle der Totentanz eines zu Ende gehenden Zeitalters waren - wollte niemand sehen.
    Lemont hingegen war genau aus diesem Grund nach New Orleans gekommen: um der Wahrheit willen.
    Just an dem Tag, da er von Bord gegangen war, hatte das Gelbfieber das erste Opfer gefordert. Während in den beiden darauf folgenden Wochen die Zahl der Erkrankten sprunghaft angestiegen war und jene, die es sich leisten konnten, panisch die Flucht ergriffen, war Lemont geblieben. Inzwischen lag die Stadt unter Quarantäne; Schiffe aus Übersee machten kehrt, noch ehe sie den Hafen erreichten. Der Schiffsverkehr auf dem Fluss war zum Erliegen gekommen, und in den Sümpfen lauerte der Tod durch Hunger und Durst oder das gefräßige Maul eines Krokodils.
    Doch Lemont hatte nicht vor zu fliehen; er war überzeugt davon, dass es nicht sein Schicksal war, an diesem verkommenen und bis ins Mark verdorbenen Ort einen ebenso grausamen wie sinnlosen Tod zu sterben. Seine Ambitionen gingen weiter.
    Viel weiter ...
    Er folgte dem Weg, den man ihm beschrieben hatte, und nahm eine der schmalen Gassen, die sich durch schmutzige Hinterhöfe zum Armenviertel wanden. Wo Sklaven und Tagelöhner hausten, hoffte er zu finden, was er an keinem anderen Ort dieser Welt gefunden hatte.
    Inmitten der engen Backsteinwände war die Schwüle noch drückender und der Odem des Todes noch beißender. Lemont zog das Halstuch enger, das er um Mund und Nase trug. Von den bis zu vierhundert Menschen, die Yellow Jack täglich zum Opfer fielen,
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