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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main
Autoren: Wilhelm Genazino
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In der Rohrbach-Straße geht ein nach Sandelholz duftender Inder an mir vorbei. Ihm folgt ein junger Mann, der sich während des Gehens mit einem kleinen Kamm den Oberlippenbart kämmt. Beide beobachten ein paar Schüler an einer Straßenbahn-Haltestelle. Einer von ihnen hat eine Freundin dabei und knutscht sie, zwei andere ohne Freundin schauen dabei zu und werden verlegen. Ich biege ab in die Rotlint-Straße und schaue von außen in das etwas tiefer gelegene Schaufenster eines Cafés. Einige Gäste haben ihre Mäntel und Jacken zusammengeknüllt und auf freien Stühlen abgelegt. Diese merkwürdigen, meist dunkelfarbigen Knäuel und Klumpen sehen von außen aus wie verhüllte Lebewesen, so dass der Raum momentweise anmutet wie ein Café für entkommene Pelztiere. Manchmal sitzt auch mein Freund Walter in diesem Café. In seiner winzigen Wohnung in der Vogelsberg-Straße fällt oft die Heizung aus, und weil er es müde ist, sich mit Monteuren auseinanderzusetzen, ist er dazu übergegangen, mit Mantel, Mütze und Schal zu arbeiten. Er sagt, im Mantel habe er das Gefühl, von allem weit entfernt zu sein, besonders von sich selbst. Außerdem gefällt es ihm, im Mantel an das Fenster zu treten und eine Bekannte auf der Straße zu grüßen, zum Beispiel Elvira, die nicht weit von hier wohnt, übrigens ebenfalls in einer bescheidenen Wohnung. Elvira absolviert eine schwierige, lang andauernde Tanzausbildung; sie passt zu ihr, denn auch Elvira ist schwierig und hat Sonderwünsche, die ihr das Leben zusätzlich erschweren. Ich schaue das unglaublich flackernde Neonlicht in der Änderungsschneiderei Pasqualetto an. Wie jeden Tag sind Herr und Frau Pasqualetto über ihre Nähmaschinen gebeugt. Über ihnen zuckt das Licht mehrerer defekter Neonröhren. Manchmal wirkt es wie ein aufkommendes Gewitter, aber Herr und Frau Pasqualetto arbeiten ungerührt Tag für Tag. Weil mir der kleine Spaziergang geglückt erscheint, werde ich mir ein Stück Torte kaufen. Im Winkel von nahezu neunzig Grad gehe ich auf eine Bäckerei zu. Ich sage, dass ich ein Stück Schokoladentorte wünsche, und sehe der Verkäuferin dabei zu, wie sie sich einen Pappdeckel für das Stück Torte zurechtlegt. Da fragt mich die Verkäuferin, ob sie das Tortenstück auf den Pappdeckel legen darf oder ob es aufgestellt bleiben muss. Eine derartig einfühlsame Frage habe ich in einer Bäckerei noch nie gehört. Ich habe nicht einmal gewusst, dass eine solche Frage überhaupt gestellt werden kann. Deswegen weiß ich auch keine Antwort, jedenfalls nicht so schnell. Ich gebe einen ausweichenden Laut von mir, den die Verkäuferin offenbar so auslegt, dass ich vielleicht nur aus Scheu nicht sagen will, dass ich ein aufgestelltes Stück Torte bevorzuge. Ich schweige und bewundere die zahlreichen Handgriffe, die nötig sind, ein Stück Torte von einer Kuchenplatte zu lösen und es aufrecht und ohne irgendwelche Schäden auf einen Pappdeckel zu heben und das Ganze dann auch noch in ein Stück Papier einzuschlagen.

Wer in einem Flugzeug sitzt und sich langsam der Stadt Frankfurt am Main nähert, wird Opfer einer harmlosen Blendung. Etwa fünfzehn Minuten dauert der Sinkflug, und er spielt sich über schier endlosen Häusermeeren ab. In der Mitte des Panoramas erhebt sich machtvoll eine Wand von Hochhäusern, die zusammengewachsen scheinen. Wer die Geographie nicht kennt, hält den riesigen Teppich von bebautem Gelände für Teile von Frankfurt, das seit langer Zeit damit leben muss, dass sie für die amerikanischste Stadt Deutschlands gehalten wird. Aber die Stewardess hat unzweideutig erklärt: Wir nähern uns Frankfurt am Main. Nur der Ortskundige weiß, dass der Stadtrand im Osten nicht Frankfurt ist, sondern Offenbach und Hanau, und er weiß (je nachdem, aus welcher Richtung wir anfliegen), dass der Rand im Westen ebenfalls nicht Frankfurt ist, sondern Wiesbaden. Ähnlich täuschend sind die Verhältnisse im Süden und Norden; im Süden sehen wir die Ausläufer von Viernheim, Lampertheim und Darmstadt, im Norden die Ränder von Bad Homburg. Die Lösung ist einfach: Von oben erkennen wir die Stadtgrenzen nicht. Tatsächlich sieht der Ballungsraum Rhein-Main von oben aus wie eine einzige Monsterstadt. Wer nach der Landung das Gefühl einer Enttäuschung nicht los wird, muss sich, je mehr sich der Stadtkern nähert, auf weitere Desillusionierungen einstellen.
    Das Stadtzentrum von Frankfurt kann man in zwanzig Minuten durchqueren. Dabei weiß man nicht recht, ob man das
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