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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel
Autoren: Nina Sankovitch
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Prolog:
Auf der Klippe
Ich habe überall nach Glück gesucht, aber ich habe es nirgends gefunden außer in einem Eckchen mit einem kleinen Büchlein.
(In omnis requiem quaesivi et non inveni, nisi in een hüxken met een büxken.)
THOMAS VON KEMPEN
      Im September 2008 fuhren mein Mann Jack und ich an einem verlängerten Wochenende aus unserer Kleinstadt in Connecticut hinaus nach Long Island ans Meer. Unsere vier Kinder blieben bei meinen Eltern. Aufs Dach unseres Autos hatten wir ein Surfbrett geschnallt und im Kofferraum ein Fahrrad und ein paar Reisetaschen mit Kleidern und Büchern für drei Tage verstaut. Den Kurzurlaub hatte ich Jack zu seinem fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Ich hatte ihn bei einem Windsurfkurs für Fortgeschrittene angemeldet, ein Hotelzimmer abseits des Old Montauk Highway gebucht und es geschafft, einen Tisch in einem In-Lokal zu ergattern.
    An unserem ersten Tag auf Long Island schwang ich mich aufs Fahrrad, während Jack durch die Wellen pflügte. Mit einem Buch, Dracula von Bram Stoker, einer Flasche Wasser und einer Tafel Schokolade im Fahrradkorb radelte ich in Richtung Montauk. Ich fuhr den hügeligen Old Montauk Highway entlang, eine Straße, die sich ganz dicht am Ufer entlangschlängelt und nur von Gebüsch, Nadelbäumen und Steilklippen vom Meer getrennt ist. Nach gut einer halben Stunde entdeckte ich eine kleine Öffnung im Gebüsch und stieg vom Fahrrad. Ein schmaler Pfad führte zu einem malerischen Plätzchen. Am Rand der Klippe stand eine Holzbank, die von Sand, Wind und Regen zu einem hellen Grau ausgebleicht und glatt poliert worden war. Die vom Schatten eines überhängenden Baums geschützte Bank bot einen herrlichen Blick hinaus auf den Atlantik. Ich konnte dort sitzen und allein sein, und wenn ich aufsah, erstreckte sich vor mir die Welt in einer Kaskade blauer und weißer Wellen und auf dem Wasser tanzenden Sonnenlichts. Ich lehnte mein Rad an einen Felsvorsprung, nahm Buch, Schokolade und Wasser aus dem Korb und setzte mich zum Lesen auf die Bank.
    Ich verbrachte den ganzen Tag auf dieser Bank, stand hin und wieder auf, um mich ein wenig zu strecken, und machte mich irgendwann auf die Suche nach einer Toilette und etwas Essbarem. Aber ich kehrte zu meiner idyllischen Bank zurück und las weiter, vertieft in die schauerliche Reise Graf Draculas von Transsylvanien nach England. Zusammen mit Jonathan Harker, van Helsing und Mina – den Guten – und immer auf der Flucht vor den Vampiren reiste ich über Berge und durch Dörfer.
    Der plötzlich auffrischende Wind des nahenden Abends brachte mich wieder dorthin zurück, wo ich saß, zu meiner Bank an der Steilküste von Montauk. Ich musste zum Hotel und mich für unser schickes Abendessen umziehen. Auf dem Rückweg hielt ich an einem Straßenstand und kaufte Äpfel, Blauschimmelkäse und einen Laib Brot. In einem Weinladen erstand ich noch eine Flasche Rotwein und kurvte mit übervollem Fahrradkorb zurück zum Hotel.
    Jack war noch nicht da. Na, wunderbar, dachte ich. Ich ziehe mich nicht für’s Abendessen um, ich lese einfach weiter. Gegen den größten Hunger schnitt ich ein Stück Käse ab, lud es auf den knusprigen Brotkanten und schenkte mir einen ordentlichen Schluck Wein dazu ein. Mit der Hand am Weinglas las ich weiter. Van Helsing war Graf Dracula dicht auf den Fersen und würde dem aristokratischen Blutsauger jeden Augenblick den Garaus machen.
    Der halbe Blauschimmelkäse war verspeist, das leere Weinglas stand auf dem Boden, und ich war über meinem Buch eingeschlafen, als Jack vom Windsurfen zurückkam. Ich bemerkte nicht einmal, wie er sich neben mich auf das Sofa legte. Als ich später, es war halb elf, aufwachte, lag er friedlich schnarchend neben mir und verströmte einen Geruch nach Salzwasser und Schweiß. Unser reservierter Tisch war lange weg. Ich rutschte etwas höher in meinen Kissen, schenkte mir noch ein Glas Wein ein und las Dracula zu Ende.
    Am nächsten Tag wurde mir klar, dass ich es geschafft hatte. Ich hatte ein Buch an einem Tag ausgelesen, und zwar ein ganz schön dickes, mit über vierhundert Seiten. Natürlich hatte es schon Tage in meinem Leben gegeben, an denen ich ein Buch auf ein Mal verschlungen oder in wohl bemessenen Happen an nur einem Tag genüsslich verputzt hatte. Doch dieses Buch war ein Testballon gewesen: Jetzt wusste ich, dass ich so weit war. Ich würde ein Jahr lang jeden Tag ein Buch lesen.
    Als Jack nach dem Frühstück wieder zum Windsurfen aufbrach, radelte
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