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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Marina Fiorato
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sich ab. »Auf offener Straße. Diese prachtvollen Säulen, die Euer Architektenkollege Sansovino errichtet hat, um diesen Platz zum schönsten der Welt zu machen, dient jetzt den Huren als Ort, um ihre Freier zu bedienen.« Er seufzte. »Die Zügellosigkeit und die Ausschweifungen werden immer ärger. Ein solches Benehmen gab es früher nur im Karneval, zwei kurze Wochen im Jahr lang. Jetzt ist es an der Tagesordnung. Wir sind im ganzen Ausland dafür bekannt, werden deswegen verhöhnt. Man spricht weder von Sansovinos Säulen noch von Euren eigenen Villen und Kirchen, sondern nur von den Huren, die ganz offen auf den Straßen ihrem Gewerbe nachgehen.« Der Doge legte eine Hand an den Fensterriegel und überprüfte ihn, wie um sich zu vergewissern, dass der Gifthauch der Seuche nicht in den Raum dringen konnte. »Und sowie es sich in der Stadt verbreitet, dass die Pest umgeht, wird alles noch viel schlimmer werden. Die Nähe des Todes verleitet einen Mann zu seltsamen Dingen – er achtet das Gesetz nicht mehr und meint, er müsste huren, stehlen, lügen und so viel Geld zusammenraffen, wie es nur irgend geht.«
    Palladio versuchte, die einzelnen Fragmente der Rede des Dogen miteinander in Einklang zu bringen, das Wunder und die Dirnen.
    »Nur ein einziger Mann kann diese liederlichen, wundervollen Menschen vor der Pest bewahren, und dieser Mann bin nicht ich.«
    Palladio dachte an die sechs Ärzte der sestieri, von denen keiner ihm des Mantels des Erretters würdig zu sein schien. Dann wurde ihm bewusst, dass der Doge von Christus sprach, und er setzte rasch eine fromme Miene auf. Der Doge richtete seine wässrigen hellen blauen Augen auf ihn. Sie wirkten alt, geschlagen und müde. »Ihr seid dieser Mann.«
    Palladios ehrerbietige Maske fiel von ihm ab, als ihm der Mund offen stehen blieb.
    »Seht Ihr es denn nicht? Gott straft Venedig. Wir brauchen ein Opfer, eine Gabe, die groß genug ist, um Seinen Zorn von uns abzuwenden und Seine Hand davon abzuhalten, unsere Stadt auszulöschen. Wenn uns die Medizin nicht helfen kann, müssen wir uns dem Gebet zuwenden. Ihr, Andrea, werdet auf den Ruinen des Klosters Santa Croce eine Kirche erbauen. Ihr werdet in die Fußstapfen des heiligen Sebastian treten und eine so prächtige Kirche zum Ruhme Gottes bauen, dass sie mit dem Glanz Seiner Schöpfung wetteifern kann. Und wenn Ihr das getan habt, werden die Menschen zu Hunderten und Tausenden kommen und sich Gott zuwenden; sie werden Ihn mit ihren Stimmen preisen und Ihm auf Knien danken. Die Macht des Gebets wird uns alle erlösen.«
    Palladio verlieh seinem Widerstreben Ausdruck. »Aber … ich hatte gedacht … natürlich fühle ich mich sehr geehrt, aber vielleicht könnte ich die Arbeiten von Vicenza oder vielleicht Treviso aus leiten …«
    Der Satz erstarb unter dem Blick des Dogen, und der Wind heulte spöttisch auf. Der Doge ließ einen Moment verstreichen, bevor er erwiderte: »Andrea. Wir sind alte Männer. Die Zeit, die uns noch bleibt, ist kurz. Ihr werdet ebenso wie ich in Venedig bleiben. Ihr könnt Eurer Stadt keinen größeren Dienst erweisen als diesen. Begreift Ihr denn nicht?« Er umschloss Palladios Schultern mit einem erstaunlich festen Griff. »Ihr schließt einen Vertrag mit Gott selbst ab.«
    Palladio erinnerte sich daran, dass er als junger Steinmetz immer Fossilien in den Steinen gefunden hatte, die er bearbeitete. Kein Tag war vergangen, ohne dass er nicht wenigstens auf einen Nautilus gestoßen war, eine perfekte, komprimierte und Tausende von Jahren lang im Carrara-Marmor begrabene gleichwinklige Spirale. Und jetzt saß er in einer ähnlichen Falle. Sein Auftrag legte ihn in Ketten; er war buchstäblich in Stein gefangen.
    Aber er las die Hingabe in den Augen des Dogen und wusste, dass Sebastiano Venier keinen Widerspruch dulden würde. Wie konnte er diese Augen für die eines alten Mannes gehalten haben? Jetzt glühte in ihnen das blaue Feuer religiösen Eifers, das Feuer des heiligen Sebastian. Selbst wenn er den Mut aufgebracht hätte, sich zu weigern – die Nähe eines der Gefängnisse gab den Ausschlag. Palladio neigte in stummer Zustimmung den Kopf.
    Der Doge, der eine Weigerung gar nicht in Betracht gezogen hatte, rief nach seinem Haushofmeister. »Camerlengo, bring Signore Palladio zu seinem Haus zurück und sorge dafür, dass er alles erhält, was er braucht. Und, Camerlengo«, bellte er, als der Haushofmeister sich anschickte, Palladio durch die mächtigen Türen zu folgen, »such mir
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