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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Marina Fiorato
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jetzt einen richtigen Arzt.«

1
    Konstantinopel
    Jahr 983 nach osmanischer Zeitrechnung
    Ein Monat zuvor
    Feyra Adalet bint Timurhan Murad gab sich an diesem Morgen besondere Mühe mit ihrem Äußeren.
    Ihr Vater hatte das Haus bereits verlassen, daher konnte sie nicht – wie sie es häufig tat – seine Kleider anlegen. In Konstantinopel war es unter den ärmeren Familien üblich, dass Frauen und Männer das Gleiche trugen; Männer- und Frauenkleider waren einander ohnehin so ähnlich, und oft reichte das Geld nur für eine Garnitur guter Kleider oder ein gutes Paar Schuhe. Feyra und ihr Vater waren dank Timurhan bin Yunus Murads Status als hochrangiger Schiffskapitän recht wohlhabend, aber Feyra hielt trotzdem an dieser Tradition fest: Sie half ihr, sich dahinter zu verstecken.
    Heute musste ihr Vater eine wichtige Verabredung haben, und eine frühe noch dazu, denn als Feyra die geschnitzten Gitterläden ihres Fensters aufstieß, sah sie, dass die Sonne noch kaum über der Stadt aufgegangen war. Die Kuppeln und Minarette, die sie so liebte, bildeten immer noch bloße Silhouetten; dunkle Umrisse, die sich von dem korallenfarbenen Himmel abhoben. Feyra sog die salzige Luft tief ein.
    Den Geruch Konstantinopels.
    Sie blickte auf das Meer hinaus, eine silbrige Linie im Licht der Morgendämmerung, und fragte sich, was wohl dahinter liegen mochte. Einen Moment lang stieg Sehnsucht nach einem anderen Land in ihr auf, nach jenen Orten, die sie nur aus den Geschichten eines zur See fahrenden Vaters kannte.
    Aber Feyras Tagträumerei hatte sie Zeit gekostet. Sie wandte sich von der Aussicht ab und blickte stattdessen in das in Emaille gefasste, auf Hochglanz polierte und nur von ein paar Dellen im Metall verunzierte Rechteck aus Silber, das an der Wand hing. Ihr Vater hatte es aus irgendeinem östlichen Land jenseits irgendeines östlichen Meeres mitgebracht, und es hatte in ihrem Raum gehangen, seit sie ein Baby war. Als Kind war der Spiegel eine Kuriosität für sie gewesen; er hatte ihr gezeigt, welche Farbe ihre Augen hatten, wie ihr Gesicht aussah, wenn sie Grimassen schnitt, und wie weit ihre Zunge reichte, wenn sie sie herausstreckte. Nun, wo Feyra zur Frau herangereift war, war der Spiegel ihr bester Freund.
    Sie musterte ihr Spiegelbild eindringlich, versuchte zu sehen, was die Männer sahen. Als sie zuerst bemerkt hatte, dass Männer sie auf der Straße anstarrten, hatte sie begonnen, ihr Haar zu bedecken. Dann starrten sie ihren Mund an, also gewöhnte sie sich an, den yashmak, den Halbgesichtsschleier, zu tragen. Sie hatte sogar einen mit Ziermünzen am Saum gewählt, damit das Gold die Augen der Männer von den ihren ablenkte. Doch sie stierten sie immer noch an, also ging sie zu dem ormisi über, einem dünnen, eine Handspanne breiten Schleier, der über den Augen getragen wurde. Als auch das nichts fruchtete, schloss sie daraus, dass ihr Körper das Interesse der Männer wecken musste. Sie fing an, ihre knospenden Brüste so fest zu bandagieren, dass es schmerzte, und immer noch wurde sie angestarrt. Warum?
    Feyra hatte genug Sonette und Oden liebestrunkener Poeten gelesen, um zu wissen, dass sie nicht den Idealen der osmanischen Dichter entsprach. Sie glich auch nicht den Mädchen, um die es in den zotigen Liedern ging, die die Seemannsfreunde ihres Vaters grölten. Sie hörte sie manchmal, wenn sie im Bett lag und die Männer unten beim Essen saßen und zu viel getrunken hatten.
    Feyra hielt ihre bernsteinfarbenen Augen, die groß, aber leicht schräg stehend wie die einer Katze waren, für nicht rund und dunkel genug, um in Liedern gepriesen zu werden. Ihre kleine Stupsnase konnte gleichfalls keinen Anspruch auf Schönheit erheben. Ihre kaffeebraune Haut war nicht rauchig genug, um Männer zu Gedichten zu inspirieren; ihr Haar, das ihr in dichten Locken um die Schultern fiel, nicht seidig und glatt genug, und auch die Farbe stimmte nicht: Es wies alle Schattierungen von Dunkelbraun auf, aber nicht das tiefe Schwarz von Rabenflügeln. Und ihr breiter, roter Mund, dessen Oberlippe seltsamerweise größer war als die Unterlippe, war so großzügig geschnitten, dass ihn auch der romantischste Dichter nicht guten Gewissens mit einer Rosenknospe vergleichen konnte.
    Ihrer Ansicht nach waren ihre Züge – sowohl einzeln als auch als Ganzes betrachtet – unauffällig, wenn nicht gar eigenartig. Aber sie schien irgendeine geheimnisvolle Macht auszustrahlen, die sie nicht begriff und die ihr ganz und gar nicht
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