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Zeitfinsternis

Zeitfinsternis

Titel: Zeitfinsternis
Autoren: David S. Garnett
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    Es gab zunächst keinerlei Anzeichen dafür, daß sie sich von irgendeiner beliebigen anderen Schlacht unterscheiden würde, und so begann sie auch auf die gleiche Art, wie das bei solchen Anlässen üblich war.
    Diese besondere Schlacht hatte sich fast zu einem alljährlichen Ereignis entwickelt, und die Leute waren von weit her gekommen, um sie sich anzusehen. Die Gasthäuser waren belegt, die Kneipen voll. Am vorherigen Tag war in einem der benachbarten Dörfer ein Wanderzirkus mit Schaubuden eingetroffen, was die Ferienstimmung unter den Zuschauern zusätzlich verstärkte. Die einzigen, die sich von dieser Stimmung nicht anstecken ließen, waren die zweitausend Soldaten in jedem der beiden Heere. Deren Aufgabe war es, zu kämpfen und für die Unterhaltung zu sorgen, obwohl man der Wahrheit wohl sehr nahe kam, wenn man den Großteil der Soldaten nicht mehr ganz nüchtern bezeichnete. Die Parteien wetteiferten miteinander darin, wer am lautesten singen konnte. Die Soldaten sangen jedoch ohne die geringste Begeisterung auf den Befehl ihrer Offiziere hin, sangen verzweifelt und lautstark, als könnten sie sich so davon ablenken, was in den nächsten ein oder zwei Stunden geschehen würde.
    Es ging um eine Angelegenheit der Ehre, des nationalen Stolzes. Jede Seite behauptete, von der anderen beleidigt worden zu sein, aber keine sah sich zu einer Entschuldigung veranlaßt. Es war vielmehr so, daß Attila XXI. behauptete, er sei von einer Handlung Napoleons XIV. beleidigt worden – und umgekehrt.
    Es gab da ein kleines Dorf namens Blancz, zwölf Einwohner, das auf der Grenze zwischen dem Saarland und Lothringen lag, und jeder der beiden Monarchen beanspruchte das Dorf für seinen Hoheitsbereich. Blancz selbst änderte seine Loyalität jedes Mal, wenn ein Steuereintreiber vorbeikam. Im Gegensatz zu den Schlachten des letzten und der vier davorliegenden Jahre war der Anlaß für die Auseinandersetzung allerdings kein Streit darüber, wem das Recht zur Besteuerung des Dorfs zukam. Nein. Die Dorfbewohner von Blancz hatten sich bei Attila darüber beschwert, daß die Lothringer einer ihrer Mitbürger, eine junge Frau, entführt hatten. Nun war die Schlacht im letzten Jahr von Lothringen gewonnen worden, und die Einwohner von Blancz zahlten also ihre Steuern an Napoleon. Als die Dörfler sich mit ihrer Bitte um Schutz an Attila gewandt hatten, fühlte der Monarch des Saarlands sich sofort verpflichtet, ihnen zu Hilfe zu kommen. Unglücklicherweise dachte Napoleon da anders. Er war der Meinung, daß es sein gutes Recht sei, sich aus dem Dorf zu holen, was er wollte. Aus diesem Grund: die Schlacht.
    Die guten Leute von Blancz, jetzt nur noch elf, hatten sich unter das Publikum gemischt, das auf den Hängen der Hügel hockte, die das Schlachtfeld umgaben. Es war eine gute Stelle für eine Schlacht, großräumig und eben und ohne Löcher, in denen sich die Pferde der Ritter die Beine brechen könnten. Es war auch nicht die erste Schlacht, die da stattfand. Besonders die alten Männer waren mehr daran interessiert, sich in Erinnerungen darüber zu ergehen, wie die Auseinandersetzungen in ihrer Jugend ausgesehen hatten, und daß die von heute im Vergleich dazu gar nichts waren. Hatte nicht Attila XVIII. einst ein Heer von zehntausend Mann auf eben dieses Feld geführt? Oder waren es zwölftausend gewesen? Die jüngeren Männer schlossen Wetten über den Ausgang ab. Die noch jüngeren wälzten sich mit ihren Mädchen im Gras, und die allerjüngsten spielten mit Holzschwertern. Ein Kind stolperte einen Hang zu der leeren Arena hinab – denn genauso sah das Schlachtfeld aus –, und seine Mutter hastete ihm nach und zerrte das kreischende Balg zu ihrem Picknickkorb zurück.
    Der Morgen war schon nicht mehr ganz jung, als Napoleon und Attila auf ihrem weißen beziehungsweise schwarzen Hengst ihre jeweiligen Heere abritten. Die Trommler trommelten, die Trompeter trompeteten, und die Pferde düngten den Boden. Jedes Heer bestand fast ausschließlich aus Fußsoldaten, die zum Militärdienst gepreßt worden und mit dieser Regelung nicht so recht zufrieden waren. Die Uniform der Lothringer bestand aus roten Hemden, und sie trugen runde Schilder mit einem roten Drachen als Wappen. Die Schilder der Männer von der Saar waren oval und zeigten eine blaßblaue Schlange. Die Hemden, mit denen sie bekleidet waren, hatten seltsamerweise ebenfalls diese blaßblaue Farbe. Sonst unterschieden sich die beiden Heere nicht: Sie trugen alle Sorten
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