Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeitfinsternis

Zeitfinsternis

Titel: Zeitfinsternis
Autoren: David S. Garnett
Vom Netzwerk:
ist das hier nicht meine Welt; ich gehöre hier nicht her. Ich lebe tausend Jahre in der Zukunft, zusammen mit den anderen Maulwürfen. Oder war es die Gegenwart, und die Welt über der Oberfläche war zehn Jahrhunderte zurückgegangen? Es war gleich; so oder so, das machte keinerlei Unterschied.
    Wozu war er denn schließlich hier? Um dafür zu sorgen, daß Attila am Leben blieb? Um den Status quo aufrechtzuerhalten? So etwas Ähnliches. Er hatte dem König heute das Leben gerettet, und dafür hatte er nicht einmal ein Dankeschön bekommen. Nicht, daß er eines erwartet hätte. Attila, der Mistkerl.
    Aber wie kam es, daß Anders gestorben war? Vielleicht hatte er Pech gehabt, und ein Pfeil hatte ihn getroffen, bevor er sich schützen konnte. Oder hatte seine Pistole versagt? Fells eigene Ausrüstung hatte ihn schon ein paarmal im Stich gelassen, aber bisher war es nichts Ernstes gewesen. Es war ihm trotzdem möglich gewesen, seine Position am Hof zu halten, weil ihm seine ,Kunststücke’ zur Verfügung standen. Attila nahm wahrscheinlich sogar an, er habe etwas damit zu tun gehabt, daß die schwarzen Horden aufgetaucht waren, die seine Gegner überwältigt hatten. Was aber hielt er davon, daß seine eigene Armee vernichtet worden war? Oder dachte er überhaupt nicht nach? War auch er ein Zombie, ein teilnahmsloser Kretin? Vielleicht war jedermann über der Oberfläche ein Android, der nur dazu da war, denen dort unten zur Unterhaltung zu dienen. Vielleicht war er selbst einer.
    Er stand abrupt auf und ging in dem kleinen Zimmer hin und her. Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel an die wirklichen Androiden: Woher waren sie gekommen? Vielleicht hatte Anders es angezettelt, und die Sache hatte nicht richtig geklappt. Es war offensichtlich, daß sie nicht von oben gekommen sein konnten. Über derartige Hilfsmittel verfügte selbst Flanders nicht, also blieb nur das Unten. Irgend jemand von dort unten mußte das eingefädelt haben. Das war die einzig mögliche Antwort. Er hatte insgeheim schon oft den Verdacht gehabt, daß die Streitereien unter den Nationen, die es in Europa noch gab, einzig und allein für die wenigen tausend Leute existierten, die sich Beobachter oder Wächter nannten. Alle anderen waren Spielzeuge, die nur dazu da waren, mit Geschichten von Zwergen, Drachen und Kobolden Furcht zu verbreiten oder zu quälen. Und die schwarzen Riesen und Zwerge waren nichts anderes als die physische Manifestierung solcher Legenden.
    War Erster dafür verantwortlich? Die Ideen quollen aus Fells überfließendem Gehirn. Wenn man es von der Seite sah, stimmte so vieles. Und trotzdem. Wie konnte er sich nur dazu bringen, solche… Blasphemien zu glauben.
    Der Erste Wächter sollte das Vertrauen mißbrauchen, das man in ihn gesetzt hatte? Die Zukunft der Welt? Sicher nicht.
    Wer aber war Erster? Woher war er gekommen? Seine Herkunft war ein Geheimnis. Zehn Jahre mußte es jetzt her sein. Der vorhergehende Erste war ermordet worden, und plötzlich war er – der Erste – da und war bis heute geblieben. War Erster, wer auch immer er sein mochte, wie die mechanischen Neger von irgendwoher aufgetaucht? Niemand schien ihn nämlich vorher gekannt zu haben. Einige hatten versucht, ihn loszuwerden, aber der Usurpator hatte verschiedene Komplotte schadlos überstanden. Alle anderen, darunter auch Fell, hatten das mit Gleichmut hingenommen. Merkwürdig, wie sie das alle so passiv ertragen hatten, jedenfalls schien es zumindest im Rückblick so. Oder vielleicht, so überlegte er sich, hatte er es für das Klügste gehalten, die Situation an der Spitze nicht nachzuahmen – kleinliche Streitereien um eine belanglose Autorität.
    Wie kommt das eigentlich, fragte sich der falsche Zauberer, daß ich darüber vorher noch nie in dieser Art und Weise nachgedacht habe? Es war, als sei ihm eine Binde von den Augen genommen worden; die heutigen Ereignisse hatten seine eingeschlafenen Gedanken wie mit einem Tritt in Bewegung gebracht.
    Er beschloß, an die frische Luft zu gehen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Es war fast so schlimm, hier in seinem Zimmer herumzuhocken, wie unter der Erde zu leben. Er schloß die schwere, lackierte Tür auf und ging in den dunklen Korridor hinaus. Er drehte sich um, um die Tür mit seinem Daumenabdruck abzuschließen, erstarrte aber bei einem leisen Geräusch. Er sah zurück. Es war einer der anderen Überlebenden des Massakers. Der Hofnarr.
    Fell hatte sich schon oft über Attilas Hofnarren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher